Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 3. November 1873

Heidelberg, 3 November 1873.

Liebster Ernst!

Es ist mir, als ob eine lange Zeit verstrichen sei seit ich zum letztenmale mit Dir zusammen war a, um dann das so oft, und in so wechselvoller Stimmung durchzogene Mühlthal zum letztenmale zu durchfahren und damit auch Abschied zu nehmen von der durch den gemeinsamen Genuß so theuer gewordenen Landschaft. Eine lange Zeit scheint mir inzwischen verflossen, und doch ist sie kürzer als die so oftmals uns trennenden Ferien waren, und wenn ich in diesen gar oft das Verlangen nach Dir empfand, so ist’s mir in der jüngsten Frist noch öfter geworden, und leider kann nur ein Brief dießmal an die Stelle des persönlichen Wiedersehens treten., ein Brief der schon längst und oftmals geschrieben wäre, wenn der Gedanke an Dich jedesmal schriftliche Verkörperung gefunden hätte.

So will ich denn jetzt, nachdem ich Dir für Deine jüngsten Zeilen gedankt und zugleich meine Freude und aufrichtige Theilnahme an dem guten Befinden Deiner Familie inclusive ihres jüngsten Gliedes ausgedrückt habe, ausführlich berichten.

Der letzte Theil des September verfloß mir hier mit Zuwarten auf die Packer und unsere Habseligkeiten, sowie mit mancherlei kleinen Vorbereitungen. Ein Besuch in Carlsruhe bot mir beim Ministerium guten Empfang, und eröffnete mir eine erfreuliche Perspective auf eventuelle Unterstützung. Zu Anfang Octobers gelang es uns endlich nach vielen Schwierigkeiten die Wohnung zu beziehen und nach und nach und häuslich einzurichten. Gleichzeitig übernahm ich die Anstalt, in welcher || ich außerordentlich vieles, zu thun vorfand, das meiste freilich vorerst noch b im Projecte lassend, da entschiedene bauliche Umänderungen und zwar in nicht geringem Maaße nothwendig sind. Es ist aber Raum da und beim Ministerium guter Wille, endlich fehlen auch die Mittel nicht. Den Jenenser Verhältnißen gegenüber muthete es mich gar wunderbar an, als ich mit dem Ministerialreferenten über jene Mittel sprechend meine Wünsche so wenig schwer zu erfüllen fand. Doch zunächst bedarf das alle von meiner Seite sehr der Ueberlegung, und vor Ende des Winters werde ich kaum zu einem bestimmten Plane gelangt sein, wenn ich manche Schwierigkeit, welche der bestehende Plan bietet, mit in Erwägung ziehe. So behelfe ich mich denn jetzt noch mit den mir wenig zusagenden, in vielen Beziehungen unzweckmäßigen Räumen, mit mancher Sehnsucht an meinen Jenenser Praeparirsaal denkend. Von dem Dienstpersonal ist ein alter Diener aus Tiedemanns Zeiten da. Der Mann heißt „Eberle“, gehört also offenbar dem Schweinegeschlecht an, dem er alle Ehre macht, so daß er eigentlich „Sau“ heißen dürfte. Im übrigen injicirt er ausgezeichnet, und ist ein alter Filou, dessen Nachfolge mich mehr interessirt als er. Ein Gehilfe ist ein williger und wie mir scheint auch sehr brauchbarer Mann, mit dessen „Bildung“ ich mich beschäftige, in der Hoffnung mit demselben bald ein anderes Regime einzuführen. Dr. Solger, der sich wunderbarer Weise „mit Frau“ hier einführte, läßt sich ganz gut an, da ich ihn aber nur für diesen Winter habe, freue ich mich sehr auf Fürbringer.

Die Sammlungen sind ziemlich bedeutend, aber gänzlich verwahrlost, und da steht mir eine große Arbeit bevor. Die vergleichende anatomische Sammlung || hat bei weitem mehr als man je zum Unterricht braucht, aber in vielen Theilen ist sie verkommen, und muß im Ganzen in dem Sinne vervollständigt werden wie ich es für Jena angefangen hatte, um auch für mich brauchbar zu werden.

Den „Collegen Nuhn“ habe ich glücklich beseitigt, und seine Stellung zur Anatom. Anstalt ist soweit regulirt daß er mich nicht mehr genirt, also auch selbst wenig genirt sein wird. Ich trete ihm einen Theil der Knochen und Bänderpräparate ab, die er unter eigene Verwaltung bekommt, und bin froh wenn ich den Schund loskriege. Dagegen hat er nichts mehr in der Sammlung oder dem Praeparirsaal zu thun, und wenn er etwas braucht, wie für Vorles. über topogr. Anat., so hat er mich darum anzugehen. Ich hatte mit dem Mann, der eigentlich ein ganz guter, aber überaus dünkelhafter Kerl ist, manche für mich höchst komische Auftritte. Als ich ihn besuchte theilte ich ihm sein Schicksal mit. Trotzdem fand er sich zu den Praeparirübungen ein, und hielt mit mächtiger Stimme lange Pauken, um Anfänger, die noch keinen Knochen kannten, über den „Nutzen der Venenklappen“ u. dergl. so daß es eine ganz heitere Geschichte war. Ich sah dem einen Tag ruhig zu, schrieb dann an den Minister, und nach 2 Tagen kam ein Inhibitorium. N. fand sich bei mir ein, und erklärte er wiche nicht von seinem Rechte, wenn man ihn nicht zum Ord. mache. Darauf replicirte ich ihm, daß ich ihn nicht zum Ord. machen könne, übrigens auch gar nicht wolle, daß er aber, falls er Schwierigkeiten mache, bei der Regulirung seiner Stellung gar nichts bekomme. Dieß, mit noch manchen anderen höflichen Reden wirkte, und seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen. Inzwischen haben meine Vorschläge Facultät und Senat passirt, und gelangen mit einer Honorarprofessur versüßt, nach Carlsruhe. Wie Du siehst, befinde ich mich mitten im Kampfe ums Dasein, der auch noch auf einem anderen Gebiete ausgefochten werden muß, da N. eben seine vergleichende Anat. drucken läßt!! ||

Am 15. habe ich die Praeparirübungen begonnen. 8 Tage darauf die Vorlesungen. Der Besuch ist der besten Jenenser Frequenz etwa gleich, dürfte sich etwas höher stellen da immer noch einzelne zugehen. Also wie zu erwarten keine bedeutend größere Wirksamkeit. Mit den Studenten bin ich recht zufrieden. Es sind aus aller Herren Ländern, aber bis jetzt habe ich vom „Bummeln“ noch nichts bemerkt. Sehr auffallend war mir im Praeparirsaal gleich am ersten Tage nach rudimentären Organen gefragt zu werden, so daß ich jetzt ganz „descendentlich“ mit den Leuten verkehren kann, ohne mißverstanden zu werden. In Jena wäre das nur ausnahmsweise möglich gewesen. Im Ganzen ist der Besuch diesen Winter sehr zurückgegangen, und besonders in den jurist. Coll. soll große Ebbe sein.

Das anatom. Material ist sehr gut. Bis jetzt haben einige 40 anfangen können und es ist keine Noth mit dem Herbeischaffen, kurz, nach dieser Seite besteht große Ordnung und ich fühle mich wohl, jene Misere los zu sein, die ich ohne Aussicht auf Beßerung so lange empfand. Kürzlich ging ein Ministerialerlaß mir zu aus dem ich erfahre daß Baden auf den Dohrn’schen Leim c ging. Fischer erzählte mir vor einiger Zeit einmal die Stationsangelegenheit hätte während des Sommers vorgelegen und wäre abgelehnt worden. Es scheint also der große Alexander es doch noch durchgesetzt zu haben. Freilich heißt es im Erlaß „vorläufig auf 1. Jahr“. Wahrscheinlich wird Herr Koßmann die Stationsfrüchte pflücken wollen, wenn nicht Alexander selbst. In seinen Agitationen gegen meine Berufung benütze er auch das Argument daß ich ein intimer Freund von Dir sei, und einen solchen Menschen könne man doch nicht hier brauchen, da man sonst den Darwinismus mit einführe. Mir dagegen zeigte er neulich in seiner Sammlung eine Seite von Schmetterlingen die er in darwinistischem Sinne vervollständigte, worauf ich ihn eine passende Bemerkung machte. Uebrigens geht es mit A. abwärts, und ich möchte mir wünschen daß er so fortfahre, da ich dann doch hoffen könnte, Dich hieher zu kriegen. So nimm also einstweilen mit diesem Briefe vorlieb, den ich jetzt schließe Anderes für eine spätere Mittheilung aufbewahrend. Meiner Familie geht es gut d, obschon wir alle, etwa Ida ausgenommen, noch mit dem Eingewöhnen zu thun haben, und ich besonders nach dem lieben alten Neste manche Sehnsucht empfinde, am | meisten aber nach Dir, liebster Freund, der mir durch nichts ersetzt werden kann. Lebe wohl, grüße Deine liebe Frau bestens von uns und behalte in treuem Andenken Deinen

C.G.

a Zusammen und war durch nachträglich eingeführten Trennungsstrich getrennt; b gestr.: bei; c gestr.: bis; d „obschon … C.G.“ am unteren, linken und oberen Rand.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.11.1873
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9968
ID
9968