Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 3. Mai 1911

Friedrichshagen,

Seestr. 63.

Endlich bin ich nun von meinen langen Vortragsfahrten (von Königsberg bis Zürich! 12 Vorträge) wieder an meinen idyllischen See hier zurückgekehrt. Zuerst noch einmal herzlichsten Dank für Dein wundervolles Bild. Ich finde, daß es von allen Bauerschen Bildern das beste und sicher auch eines der allerbesten, die von Dir existieren, ist. Sehen wir Dich nicht in diesem Frühjahr noch einmal hier? Wir sind noch || den ganzen Mai über hier und würden uns so sehr freuen, Dich einmal am See (im reizenden eigenen Garten) begrüßen zu dürfen. Ich weiß nicht, ob Du den fertigen Dahlemer Botanischen Garten schon besucht hast. Sonst lohnt er in dieser Jahreszeit allein einen Besuch in Berlin. Er ist das einzige staatliche Institut hier, das einmal mit der nötigen Pracht aufgebaut und wirklich gelungen ist. Du wirst sehen, daß es von Deinem (sonst für Berlin nach wie vor gültigen) || Lehrsatz über das umgekehrte Quadrat der Leistungen wissenschaftlicher Institute doch auch einmal eine Ausnahme gibt. Im Moment beginnen alle südlichen Alpenmatten der geographischen Abteilung (Himalaya, Kaukasus etc.) zu blühen, es ist eine unbeschreibliche Herrlichkeit.

Ich durchblättere eben den ersten Band des neuen „Brehm". Der Deszendenz-Standpunkt scheint ja diesmal energischer durchgesetzt. Aber mit der Strassen‘schen Tierpsychologie, die alles zu reinen Reflexmaschinen machen möchte, bin ich besonders in solchem volkstümlichen || Werke nicht recht einverstanden. Die Gefahr bleibt, daß schließlich der Mensch dann doch wieder allein als privilegierter Intelligenzbesitzer erscheint, worauf die Waßmann‘s und Consorten nur warten, um ihre eingeblasene Schöpferseele plötzlich wieder in der exakten Zoologie zu entdecken und zu proklamieren. Strassen geht in dem allgemeinen Vorwort schon so weit, daß er alle „Gefühle" bei Tieren als indiskutabel ablehnt. Ich fürchte, es wäre Wasser auf die Mühle für die scheußlichen Tierschinder in Italien, || wenn sie läsen, daß selbst das alte tierschützlerische Brehmwerk jetzt von keinen „Gefühlen" eines Hundes oder Pferdes mehr zu reden wagt. Merkwürdig, wie in solchen Dingen die Leute hin und her pendeln. Strassen hat sich gewiß sein Teil Angst vor zu viel Anthropomorphismen beim Tierbeobachten ehrlich erworben, wie es heute nicht anders sein kann, – aber nun kommt auch gleich das andere Extrem, || das meinem Gefühl nach nur Laboratoriumsklügelei ist und von jedem Hundefreund widerlegt werden kann.

Ich habe auf der Vortragsreise überall Lichtbilder der prachtvollen Bison-Figuren aus der Höhle von Altamira (aus der großen Monako-Publikation) vorgeführt und das Staunen aller Zuhörer damit geweckt. Von all dem diluvialen Bildermaterial ist das doch wirklich jetzt der || Gipfel! Die Leute, die da gemalt haben, sind einfach erstklassige Künstler gewesen, mit allen Mitteln z. B. vollkommener Perspektive, Aufsetzen von Lichtern u.s.w. Und das alles noch mit dem Bison priscus als Objekt! Ich finde diese Sachen kunstgeschichtlich weitaus interessanter als alle frühgriechische Kunst, wie sie so eifrig jetzt gesucht wird. Der Fürst von Monako leistet durch seine Unterstützung || dieser prähistorischen Dinge unschätzbares!

Ich lese, daß Deine Selbstbiographie „spukt", – laß sie doch ja noch wirklich und leibhaftig werden. Es geht so unwiederbringliches verloren, wenn Du es nicht noch selbst aufzeichnest. Was können da alle Biographien von Fremden wiegen, – zehn Seiten „Eigenes" von Dir sind wichtiger als Bände von andern!

Mit den herzlichsten Grüßen

Dein W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.05.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9705
ID
9705