Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 1. März 1895

Friedrichshagen b. Berlin, Ahorn Allee 19.

1.III.95.

Hochverehrter Herr Professor!

Nachträglich herzlichsten Dank für Ihren prächtigen Umsturz-Artikel. Im Grunde bin ich froh, daß die erbärmliche Reaktionsstimmung, die in Berlin jetzt seit Jahren so deutlich im stillen wühlte, endlich einmal klipp und klar vor aller Welt Augen steht. Daß es ein so jämmerliches Gerippe wäre, konnte man allerdings selbst in der nächsten Nähe noch nicht wissen. Aber es liegt eine furchtbare Consequenz in dem ganzen Hergang. Ist es nicht, als wenn der Staat in einem Moment, wo die sozialen Bewegungen schon grade genug Arbeit und Unruhe schaffen, mit vollkommener Blindheit geschlagen wäre, daß er sich auch noch auf die Seite der Schwarzen schlägt, um || die Freiheit der Wissenschaft anzutasten? Hier herrscht überall eine Entrüstung, die keine Grenzen mehr kennt. Mir sind allerdings alle diese Staatsanwalts-Versuche nichts ganz neues mehr, da ich schon seit Jahren in der Praxis beobachtet habe, wie das freie Wort in Buch und Zeitschrift bereits nach gegenwärtigem Recht in einer Weise eingeschränkt wird, die oft himmelschreiend ist. Man hat bisweilen das Gefühl, als sei man überhaupt schon a priori polizeilich verdächtig, weil man wissenschaftliche oder dichterische Arbeiten drucken läßt!

Ich muß nachträglich noch um Entschuldigung bitten, daß ich mein Versprechen, Ihre „Systematische Phylogenie" zu besprechen, noch immer nicht eingelöst habe. Das Buch hat mich in höchstem Grade interessiert. Ich habe aber zunächst, wie erklärlich, sehr lange daran gelesen − und dann stellte es sich heraus, daß sich ein richtiges Hervorheben || der interessanten Punkte an dem Ort, wo es geplant war (in der National Zeitung) doch nicht populär genug machen ließ. Ich habe also die kleinere Skizze in eine größere Studie verarbeitet, mit der ich noch nicht ganz fertig bin. Ich hatte in den letzten Monaten verzweifelt viel zu thun. Die „Entwickelungsgeschichte" war durch Verlagsschwierigkeiten sehr bedroht worden, − jetzt hat ein neuer, sehr viel leistungsfähigerer Verlag sie übernommen, der Druck des 2. Bandes geht aber nun auch mit Sturmschritt vorwärts und plagt mich halb tot mit Correkturbogen. Bis Mai etwa bin ich hier somit festgelegt, was dann wird, weiß ich noch nicht genau. Daß der Plan mit der Aesthetik s.Z. nicht zu stande kam, hatte vielleicht für mich sein gutes, da ich zu dieser Arbeit, die mir so lange vorschwebt, besser noch mir ruhige Zeit nehme, − der Stoff läuft ja nicht fort. Dagegen ist mir durch den Kopf gegangen, ob in dem großen Unternehmen des bibliogr. Institutes nicht einmal eine „Geschichte der Naturwissen-schaft" || nötig werden könnte. Das wäre ein leichterer, aber auch sehr dankbarer Stoff, der mich gelegentlich sehr locken würde.

Ich erhalte grade das neueste Heft der „Zukunft". Es steht ein Aufsatz von mir über „Unsterblichkeit" darin. Er ist schon vor längerer Zeit geschrieben – im Moment müßte man so was wieder viel schärfer pfeffern! Man denkt immer wieder, man dürfte etwas zum Frieden reden – und ehe dann die Worte fertig gedruckt sind, merkt man schon, daß das Gröbste grade recht für die Sorte Gegner wäre!

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.03.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9574
ID
9574