Anonym ("H. B.")

Anonym an Ernst Haeckel, Stargard, 15. Februar 1906

Stargard den 15. Februar 1906.

Hochgeehrter Herr Professor!

Da ich schon sehr viel von Ihnen gehört und auch gelesen und ich für Sie sehr viel Achtung hege, weil Sie so unerschrocken Wahrheiten bekennen, die ich schon lange bevor ich Ihr Buch „Welträtsel“ gelesen und überhaupt von Ihnen gehört habe, ahnte, gestatten Sie mir hochgeehrter Herr, daß ich auch mich unter die Zahl Ihrer Gratulanten mische und Ihnen zu Ihrem siebzigsten Geburtstage herzlichst Glückwünsche wünsche. Möge ein gütiges Geschick es fügen, daß Sie noch recht lange schaffen und wirken mögen und möge es Ihnen eine Genugtuung sein, daß die Zahl Ihrer Anhänger eine bedeutend größere ist, als Sie es vielleicht ahnen.

Wenn ich etwas wie Verlegenheit empfinde, wenn ich nicht meinen Namen unter diesen Glückwunsch setzen kann, so bitte ich || gefälligst zu berücksichtigen, daß ich Arbeiter der hiesigen Königlichen Reparaturwerkstätte bin und Nichtbeachtung der Religion bei meinen Kollegen und Vorgesetzten gleichbedeutend mit Sozialdemokrat ist. Doch bin ich nichts weniger als dies, ich liebe meine Heimath über Alles und würde als altgedienter Soldat mit Freuden stets für meinen König eintreten. Was mir aber stets sehr mißfällt, ist beständig derartige bewußte Lügen von Seiten unserer Geistlichkeit zu hören, denn ich kann mir unmöglich vorstellen, daß gebildet sein wollende Leute einen Menschen zu Gott stempeln wollen. Ich könnte als Mensch Jesus hochschätzen aber als Gott? Das erscheint mir immer als eine Gotteslästerung und wie kleinlich wird selbst in unserer Religion unser HerrGott aufgefaßt. Doch ich will Ihnen hochverehrter Herr nicht mit meinen Ansichten kommen, das Eine weiß ich sicher, daß Sie mich || richtig verstehen und deßhalb ist es auch mein heißer Wunsch, mich an Ihrem Geburtstage wenn auch nur brieflich nähern zu dürfen. In einem gestatten Sie mir aber hochgeehrter Herr Doktor meine unmaßgebliche Ansicht äußern zu dürfen, da ich bisher noch nirgends solche gefunden, denn ich lese gerne Natur und Weltbetrachtungen und mache mir so darüber auch gerne meine eigenen Gedanken. Überall in gelehrten Abhandlungen habe ich immer von den unendlichen Sonnen und dem unendlichen Sturme in dem unendlichen Weltenraum gelesen. Wenn ich auch schon zugebe, daß für unsre Begriffe wenigstens die Sternenwelt den Sinn des Unendlichen weit übersteigt, so kann ich doch die Materie nicht als unendlich anerkennen, sondern muß irgendwo seine Grenze haben und es beginnt dort eben weiter nichts als die Unermeßlichkeit des unendlichen Raumes.

Also mit wenigen Worten, ich setze für || die Materie die Endlichkeit – natürlich für unsre Sinne auch unendlich – voraus, wohingegen in Wirklichkeit unendlich, weil eben nur Begriffe, nur Zeit und Raum sind.

Doch nun genug. In der frohen Hoffnung von Ihrem Wohlergehen noch recht lange zu hören, verbleibe ich

in aufrichtiger Verehrung

Ihr ergebener

H. B.

P. S.

Auch kann Ihnen wohl wenig daran liegen Ihnena meinen ganzen Namen zu nennen, stehe aber auf Wunsch auch damit zu Diensten, indem ich hoffe, daß Sie mir keine Verlegenheiten bereiten.

a eingef.: Ihnen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.02.1906
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9496
ID
9496