Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Schloss Wildhaus, 4. September 1883

Wildhaus 4. Sept. 1883.

Geliebter und verehrter Freund!

Nur aus Bescheidenheit habe ich mit meinem Dank für Ihren lieben, lieben Brief so lange gewartet. Ich kann mir’s denken, wie viele Antworten Sie in Rückstand hatten, und wollte Ihnen das Gefühl des reinen Schreibtischs durch zwei Wochen gönnen. Aber ich halte es nicht länger aus. Dafür müssen Sie aber auch meine Briefe als das nehmen, was sie sind: sie müssen immer geschrieben werden, während sie nicht beantwortet werden müssen. Keine Nachrichten gute Nachrichten, sagt das Sprichwort. Solang ich nichts von Ihnen höre, || solang denk’ ich, daß es Ihnen und Ihren Lieben gut geht. Drängt mich’s dann plötzlich, an Sie zu schreiben, so schreibe ich, auch wenn Sie auf mehr als Einen Brief zu antworten hätten. Sie liebe ich, weiß, wie überbürdet Sie mit Arbeit sind, und daß auch Sie mich lieben. Es geht ein eigenthümlicher Zug durch unsern Charakter, der ihn zu Einem stempelt, und es ist merkwürdig, wie gleichartig wir nur nicht nur über wesentliche, sondern auch über ganz unwesentliche Dinge, in die sich aber schließlich das Leben auflöst, denken und fühlen. Seit den herrlichen Tagen, die Sie mir in Wildhaus geschenkt haben, gehöre ich ganz Ihnen: || was ich früher dachte, weiß ich seither.

Ihren Brief habe ich beim Essen erhalten, und wir saßen dieselben wie vor Einem Jahr beisammen. Sie und der leider schon etwas mehr (oder weniger, wie man’s eben nimmt) als originelle Königsbrun fehlten; aber eigentlich fehlten nur Sie. Hätten Sie uns nur alle sehen können, wie Ihr Brief kam, und ich ihn vorlas! Es war ein ganz glücklicher Moment, und alle erwiedern [!] herzlichst Ihre Grüße, vor allem meine Fritzi, von der es mich, ich kann gar nicht sagen, wie freut, daß Sie Ihnen recht ist. Bei der Stelle, daß Sie fast uns wieder aufgesucht hätten, war der Ausrufungen || kein Ende.

Die Karte, die Sie der Draunixe anvertraut haben, muß in lauter Drauschnecken sich verwandelt haben. Alle Tage finde ich jetzt deren einige, werfe sie Ihnen immer zu; aber Sie lassen sie gleichgültig fallen – es sind nur Fasern Ihrer Karte. Sie ahnen doch nicht, wie oft ich in Gedanken mit Ihnen plaudere; sonst würden Sie sich hüten, Eddison [!] in Versuchung zu führen, denn Sie würden mit keiner Arbeit mehr fertig.

Von ganzem Herzen beglückwünsche ich Sie zu allem, was Sie seither vollbracht haben, und vor allem zur Vollendung der Villa Medusa. Wie oft rede || ich mit Fritzi von einer Reise nach Jena! Mein Wildhauser Plan oder Unplan steht fest; ich muß bei dem Entschluß bleiben, so daß ich schon beginne, die etwas gar zu schwer sich vollziehende Verwirklichung – noch ist keine rechte Aussicht dazu – herbeizuwünschen. Kommt’s aber dazu, so haben Sie uns zwei ein paar Tage bei sich. Es ist mein lichtester Ausblick.

Zum Schluß meinen ganz besonderen Dank für die mir unsagbar werthvolle Ausführlichkeit, mit der Sie mir über Schultze’s Buch schreiben. Sie haben mir damit einen Stein vom Herzen genommen; denn ich fürchtete, daß er Ihrem Herzen sehr nahe stehe, und daß Sie nicht || Zeit finden würden, seine Ausführungen, die nicht fesselnder sein könnten, ruhig durchzugehen. Zudem kann er für den Darwinismus viel wirksamer thätig sein als ich. Doch Sie haben ihn durchgemacht, und er steht Ihrem Herzen nicht nahe. Damit ist für mich alles gut. An überzeugungslose Absicht denke ich bei ihm gar nicht. Ich halte mich nur an das, was er sagt, und behandle ihn mit der größten Achtung, während mir der eitle Du Bois Reymond verächtlich ist. Ich achte auch das Glaubensbedürfniß, allein die Wissenschaft gehört auf ein anderes Blatt. Für mich liegt der Werth Darwin’s darin, daß der Mensch keine übersinn- || liche Seele zu haben, und daß man zur Erklärung der Schöpfung keine Zweckmäßigkeit anzunehmen braucht. Beruht meine Weltanschauung darauf, so habe ich mich nach Möglichkeit darin zurecht zu finden, und nicht zu sagen: Absolutes Wissen giebt’s aber doch keines, alles Wissen beruht in letzter Linie auf Glauben, und können wir auch a die Existenz Gottes nichtb mathematisch beweisen, so zeigt uns der Kriticismus doch: „daß wir mit menschlich-allgemeingiltiger Nothwendigkeit die Existenz eines Gottes glauben müssen“. (II. Seite 392.) Das ist kein Kriticismus mehr und Darwin und Haeckel haben eine hohe praktische Bedeutung. Ich glaube nicht, daß ich, ohne Ihr Zuthun, den ganzen Schultze gelesen hätte, u. bin Ihnen daher für das Buch unendlich dankbar. Habe dabei auch wieder einmal den Kant ordentlich durchgemacht. Und damit grüße ich Sie u. Ihre Lieben aus ganzer Seele, ganz Ihr

Carneric

a gestr.: nicht; b eingef.: nicht; c Text am oberen Rand von S. 4, um 180° gedreht: Lieben aus … Ihr Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
04.09.1883
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4621
ID
4621