Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Schloss Wildhaus, 2. Juli 1878

Wildhaus 2. Juli 1878.

Mein hochverehrter Herr und Freund!

Gestern habe ich Ihre freundliche Sendung erhalten und gelesen, und es wäre mir nicht möglich, den heutigen Tag vorüber gehen zu lassen, ohne Ihnen gedankt zu haben. Sie haben keine Ahnung, wie gelegen mir das gekommen ist, mit welchem Interesse ich es in mich aufgenommen habe, und wie glücklich es mich macht, Ihnen sagen zu können, daß ich die Vermittelung zwischen unseren Anschauungen in Betreff des Seelenlebens gefunden habe. Bei mir handelt sich’s ja nicht um die Rettung der Seele im alten Sinn, die ich längst habe fallen lassen, sondern um die reinste Wahrung des monistischen Standpunkts. Dieser wird gefährdet durch jede Annahme einer Seele, die nicht das Resultat einer || combinirten Function von Organen ist. Die Seele darf gar nichts für sich sein, das als solches in den Stoff gelangt. Nun fasse ich aber Ihre Zellseele als identisch mit dem animalischen Leben und nehme ich dieses im weitesten Sinne, so fällt jede Scheidewand zwischen Thier und Pflanze. Es ist jene Urstoffverbindung, also eine Combination von Functionen, aus dem sich das Leben ergiebt, und dieses Leben kann auch ich Seelenleben nennen, wenn ich das Wort im weitesten Sinne fasse und zwischen ihm und dem unterscheide, was man bei Menschen und höhern Thieren Seelenleben d. h. inneres Leben nennt. Da alles auf Mechanik zurückzuführen ist, so kann das Seelenleben in seinen untern Stufen nur vorherrschend mechanisch auftreten und diese seine Form ist es, was wir Instinct nennen, der nothwendiger Weise bei den höhern und höchsten Formen mitspielt. Bei den höhern Formen entwickeln sich die Zellen a || (hier kann ich den Ausdruck Zellseele nicht brauchen, weil er auf eine Seele im gemeinen Sinn hindeuten könnte) zu Seelenzellen, welche das höhere Seelenleben vermitteln, eine höhere Art von Gefühlen, die wir Vorstellungen nennen, zur Erscheinung bringen, und, indem sie auf diese Weise die Einzelempfindung dem Ganzen vorstellen, mittheilen, zu einer Empfindung des Ganzen machen, das Bewußtsein erzeugen. Dieser mein psychologischer Grundgedanke, der die Vorstellungen unter die Gefühle einreiht, und das Bewußtsein in einer nichts weniger als übernatürlichen Weise erklärt, befindet sich bei dieser Verbindung in keinerlei Widerspruch mit Ihrer Auffassung des Seelenlebens. Daß dabei der vorherrschend mechanische Instinct mehr und mehr in den Hintergrund tritt, aber nie ganz verschwindet, wirft ein helles Licht auf die gesammte Seelenthätigkeit, und von großem Vortheil ist mir die Unabsehbarkeit, bis zu der Sie die Organisirung verfolgen, die || schließlich in der bloßen Haut eine Vorstufe findet, welche die Sinnesthätigkeit als identisch darstellt mit der Empfindung, dem Charakteristikon alles animalischen Lebens.

Setzen Sie Ihrer Güte die Krone auf und sagen Sie mir mit zwei Zeilen, inwiefern Sie diesen Grundzügen zustimmen, ob ich Sie recht verstanden habe? Ich bin erst seit wenig Tagen hier, bleibe leider nur bis halben September, (wann kann ich hoffen Sie hier zu haben?) bin vielseitig in Anspruch genommen, aber ich habe ein Buch begonnen, das meine ethische Lebensanschauung oder Weltanschauung abschließen soll. Der Titel dürfte lauten: Naturphilosophische Grundlegung der Ethik – das erste Kapitel wird Leben heißen, das zweite Seele.

Wissen Sie jetzt, welchen Werth Ihre Sendung für mich hat? Besonders nachdem Sie mir persönlich ebenso freundlich nahe gekommen sind, als Sie, seit ich Ihre Arbeiten kenne, wissenschaftlich befreiend auf mich gewirkt haben!

Herzlichen Dank für die durch den Abgeordneten Teuschl aus Triest gesandten Grüße. Meine Tochter und ihre Freundin Hoffmann, die gerade hier ist – beide rückhaltlose Darwinianer – empfehlen sich Ihnen bestens. Mit Gruß und Handschlag Ihr dankbar ergebener

B. Carneri

Ich habe noch von Wien einen Aufsatz: Ziel und Zweck an den „Kosmos“ gesendet, der Ihnen recht sein dürfte. Er ist gegen die Teleologie, gegen Baer, aber auch gegen Zöllner-Slade gerichtet. Wir trafen da zusammen.b

a gestr.: zu Seelenzellen; b Text am oberen Rand von von S. 1, um 180° gedreht: Ich habe … da zusammen.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.07.1878
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4600
ID
4600