Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Potsdam, 2. Juni 1895

Potsdam, Pfingsten 2. Juni 1895.

Hochverehrtes Fräulein!

Die Muße, welche mir ein kurzer Pfingst-Ausflug in meine Vaterstadt Potsdam für einige Tage bringt, benutze ich zunächst, um Ihnen für Ihren freundlichen letzten Brief herzlich zu danken. Es freut mich sehr, daß Sie an meinen „Indischen Reisebriefen“ – den flüchtigen Erinnerungen an meine herrliche, leider nur zu kurze Tropenreise – einigen Gefallen gefunden haben.

Schon seit drei Wochen, seit ich die genußreiche Lectüre Ihres großartigenRobespierre“ (– leider nach manchen unliebsamen Unterbrechungen –) beendigt, habe ich Ihnen täglich schreiben und Ihnen sagen wollen, wie vielfach mich Ihre bewunderungswürdige Dichtung angeregt und mit sympathischen Ideen-Associationen erfüllt hat; selten hat mich ein episches Dichtwerk so intensiv beschäftigt. ||

Ihre lebensvolle Darstellung der französischen Revolution hat mir wieder die ungeheure Bedeutung dieser gewaltigen Neugestaltung der modernen Cultur zu vollem Bewußtsein gebracht; um so mehr, als ja vielfach die Analogien in der Gegenwart vor Augen liegen; und als das ungeheure geistige Ringen um die Neugestaltung unserer Weltanschauung auf ähnliche kommende Umwälzungen schließen läßt.

Unter den zahlreichen einzelnen Schönheiten Ihres gedankenreichen Epos haben nicht wenige mich deßhalb ganz besonders interessirt, weil ich oft in Gesprächen mit Freunden ganz derselben (– theilweise stark realistischen! –) Ausdrücke mich bedient habe – nur mit dem (– gewaltigen! –) Unterschiede, daß Sie als poetische „Eugenie“ denselben Gedanken in die schönste Form zu kleiden wissen, || für welchen ich als prosaischer Naturforscher vergebens nach einem idealen Gewande suche.

Nun würde ich sehr gern bald mein Versprechen erfüllen und in der „Zukunft“ die von Ihnen gewünschte Besprechung des „Robespierre“ geben. Ich fürchte aber leider, daß ich diese schwierige Aufgabe nicht werde lösen können. Zwei Ansätze, die ich dazu gemacht habe, fielen so kläglich aus, daß sie sich nicht vor Ihnen hätten sehen lassen können! Es fällt mir unglaublich schwer, meinen Empfindungen über ein Kunstwerk einen angemessenen Ausdruck zu geben! Schon viele Versuche der Art sind ganz gescheitert, und gewöhnlich habe ich die betreffenden Manuscripte vor dem Drucke den Flammen übergeben, was gewiß ebenso für mich das Beste war, wie für den Autor, dem ich so gerne einen Dienst geleistet hätte! ||

Fast fürchte ich, hochverehrtes Fräulein, daß Sie nach diesem schmerzlichen Geständniß nicht geneigt sein werden, mir mündliche Entschuldigung meiner Fehler zu gestatten. Sie scheinen ohnehin eine zu gute Meinung von dem alten Schulmeister zu haben, der ich nun einmal bin und bleibe. Angesichts Ihrer Werke sehe ich erst recht, wie Viel mir zum Künstler fehlt!

Sollten Sie dennoch wünschen, daß ich Ihnen in Salzburg (– Ende August oder Anfang September? –) einen kurzen Besuch abstatte, so bitte ich Sie, mir seiner Zeit mitzutheilen, wie lange Sie dort bleiben.

In aufrichtiger Verehrung

Ihr ganz ergebener

Ernst Haeckel

P.S. Bitte zu adressiren: Director des Zoologischen Instituts, da kürzlich ein Neffe meines Namens in Jena (Chirurg) ebenfalls Professor geworden ist.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
02.06.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Wien
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90667
ID
40851