Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Agnes Haeckel, Saint Andrews, 17. August 1879

Saint Andrews

Sonntag 17. Aug. 79.

Liebste Agnes!

Da in 3 Tagen unser Hochzeitstag ist, muß ich Dir doch von hier aus einen besonderen Gruß dazu senden, und Dir sagen, wie lieb ich Dich habe und wie viel lieber ich am 20. August bei Dir in Jena als hier in dem kalten, nebeligen und nassen Schottland sein würde. ||

Im Ganzen ist es hier doch ein trauriges Leben und ich ziehe unser Deutsches bei Weitem vor. Wie reizend erscheint mir unsere stille und ungestörte Existenz gegenüber dem geräuschvollen und unruhigen Treiben, dass hier im Kleinen wie im Großen Alles beherrscht! Auch ist unsere einfache Lebensweise 10mal besser || und gesunder, als dieses schwere und massive Essen u. Trinken, das hier 3mal täglich dem armen Magen zugemutet wird. Ich sitze immer still dabei und staune über die gastrische Leistungsfähigkeit der Britten! Murray ist übrigens sehr liebenswürdig und sucht mir die Existenz (– nach seiner Art –) möglichst angenehm zu machen. Er lässt Euch Alle vielmals grüßen. ||

12 Jahre sind nun schon vorüber, liebstes Weibchen, seit wir unseren Hausstand gründeten, und ich denke, Du wirst gleich mir heute sehr zufrieden und glücklich über die fortschreitende Entwicklung unsres häuslichen Glückes sein. In Gedanken sende ich Dir und unseren 3 lieben Früchtchen herzlichste Küsse und Grüße.

– Dein lieber (–erster! –) Brief, den ich vorgestern erhielt hat mich sehr erfreut.

In den nächsten Tagen Mehr von Scourie (Nordwest Schottland).

Stets Dein treuer alter Ernst Hkl.

Für die nächsten 8 Tage (Briefe spätestens Donnerstag abzusenden)a ist unsere Adresse: Hôtel of Scourie (Sutherlandshire) Scotlandb ||

Montag 18. August 1879

11stündige, interessante Eisenbahnfahrt durch Schottland, von St. Andrews (7½ früh) bis Lairg (6½ Abends). Über Perth die Hochland-Bahn (westlich mitten durch das schottische Hochland, Blair, Atholl, Inch, Forres, Inverness, Dingwall, Tain, Lairg). Scenerie der Grampian Mountains sehr ähnlich dem norwegischen Hochland, silurische wilde Felsmassen, dazwischen Matten mit weidenden Schaafen und Kühen; selten kleine Dörfer oder einzelne Häuser; viele Seen und Bäche, in den Schluchten aber viel Schnee. Alles sehr öde und einsam. ||

Dienstag 19./8. Von Lairg nach Scourie.

10stündige Fahrt quer durch den nördlichsten Theil Schottlands (Sutherland) in nordwestlicher Richtung längs des Loch Shin; einspännig auf einem „Dog-Cab“ oder „Hundekarren“ (2rädriger Karren mit einer Bank, 2 Sitze vorn, 2 hinten). Reizender wilder Pony, graugelb mit schwarzen Zebrastreifen an den Beinen. Die Fahrt, fast immer am Ufer von langgestreckten Seen hin, war sehr interessant und erinnerte mich lebhaft an die ähnliche Karrenfahrt vor 10 Jahren durch das Thal Valders in Norwegen. ||

Felsen sehr wild und großartig westlich laurentisch, östlich silurisch. Boden überall Moor, bedeckt mit rotherb Erica und gelben Moorlilien (Narthecium), ferner Wollgras, Myrica, Empetrum Drosera etc.

Am Wege mehrmals ganze Rudel von Hirschen und Rehen, sowie von schottischen Berghühnern, so zahm, daß wir sie fast greifen konnten. Nach der Westküste hin wird die Scenerie immer wilder und großartiger. Alles höchst einsam, unbewohnt und öde. Auf der ganzen Fahrt nur 2 kleine Häusergruppen. Auch unser Ziel Scourie, ist nur ein ganz kleines Dorf. Das Hôtel, das einzige weit und breit, war überfüllt, so daß wir in einem einsamen kleinen Bauernhaus die ersten Nächte zubrachten. ||

Das Dorf Scourie liegt im Grunde einer geschlossenen, von hohen Felsen umgebenen Bucht. Wenige Schritte davon ein großer dunkler Bergsee, ebenfalls von hohen Bergwänden rings eingeschlossen. Nur wenige kleine Gärten mit einzelnen Bäumen und Sträuchern in der Nähe der niedrigen kleinen Hütten; fast Alles Felsen, Haide und Moor, meist mit Erica etc bewachsen.

Die laurentischen Felsen (die NW Spitze Schottlands begrenzend) sind der „älteste Theil Europas!“ Alles entsprechend sehr „urzuständlich“ in diesem Ur-Europa! Menschen Häuser und Cultur- Bedürfnisse Alles höchst einfach, primitiv und roh. ||

In Scourie (Bay von Eddrachillis) 6 Tage (von Mittwoch 20 bis Montag 25 Aug. 79, inclusive). Ausschließlich mit pelagischer Fischerei, theils an der Oberfläche, theils in der Tiefe (von 200–300 Fuß) beschäftigt; Tow-Netz mit Gewichten beschwert.

Fauna an allen 6 Tagen sehr gleichförmig, hauptsächlich Massen von Pteropoden (Limacina) und Ctenophoren (Cydippe, Beroe, Deiopea, Bolina) ferner Sagitta, Alciope, sehr viele Larven von Echinodermen und Würmern, nur 2 Radiolarien (Thalassicolla nucleata und Collozoum inerme). || Von Medusen erschienen nur Aurelia, Cyanea, Chrysaora; Phialidium, Obelia, Willia.

Der weitaus schönste und interessanteste Tag war der letzte, Montag (25./8.); mit Segelboot Rundfahrt um die Insel Handa: eine sehr malerische, dem Nordkap ähnliche Insel von pupurbraunem cambrischen Sandstein, mit vielen Höhlen, Klüften, Felspfeilern, Säulen, Thoren etc. Bewohnt von Tausenden von Seevögeln (Meven, Tauchern, Sula, Lestris, Mormon etc). Flacher Rücken der Insel Moor. Wände rings steil abfallendd. ||

Nur an der Südseitee fällt die Insel Handa flach ab und ist hier sandig, von vielen wilden Kaninchen bewohnt, von denen wir ganze Schaaren aufjagten. Prächtiges Seebad. Bei der Rückkehr nach Scourie einige Correnten (glatte See Ströme) mit Massen von Ctenophoren etc. (Alles noch Montag Abend gepackt!)

‒ Freitag, 22. Aug. weiter Ausflug in die offene See, mit Segelboot, bei lebhaftem Südwind, der jedoch sehr kalt und unruhig war. Dabei viele Sturzwellen über das Boot, so daß wir arg durchnäßt wurden. || Ich bekam in Folge dieser Erkältung und Anstrengung in der Nacht Fieber und blieb den folgenden Tag im Bett. Jedoch wirkte starker bitterer Thee (von Menganthes), Schwitzen und Ricinus-Öl so gut, daß der Anfall in einem Tag vorbei war. 2 Tage später war ich wieder wohl. Doch mußte ich überhaupt mich sehr mit Essen und Trinken in Acht nehmen. An die schwere schottische Kost und das eisige Klima kann ich mich nicht gewöhnen. Ich gehe in dicksten Winterkleidern, und friere dabei (in den „Hundstagen“!) Ich bin froh, bald wieder im lieben Deutschland zu sein.

a Text weiter am oberen Rand von S. 3: Für … ist; b Text weiter am oberen Rand von S. 2: unsere … Scotland; c eingef.: rother; d korr. aus abfallends; e korr. aus: Ostseite;

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.08.1879
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38993
ID
38993