Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Königsberg, 18. September 1860

Königsberg 18.9.60.

Dienstag früh.

Den ersten freien Moment, mein bester Herzensschatz, benutze ich, um Dir meinen innigsten Gruß zu senden und Dir zu sagen, wie über alles ich Dich liebe, was Dich gewiß sehr überraschen wird, zumal jetzt am Beginne Deines 26sten Lebensjahres! Ich hoffe, daß Du dasselbe ganz munter angetreten, und daß Auge und Finger nicht ihre bösen Intentionen ausgeführt haben. Mir ist es inzwischen recht gut gegangen und Alles viel besser u. netter ausgefallen, als ich erwartet hatte. Laß Dir ganz kurz den Verlauf der Tage erzählen; Näheres später mündlich. Samstag 15. früh 10 Uhr fuhr ich, nachdem ich den Brief an Dich auf die Post gegeben, per Eisenbahn beim schönsten Wetter ab. In Kreuz wurde von 3- 4 Uhr Halt gemacht. Hier traf ich mit einem Oberlehrer Bail aus Posen (Botaniker) zusammen, mit welchem ich die Nacht durch nach Königsberg fuhr, wo wir früh 5 Uhr anlangten. Diese Nachtfahrt III Classe war grade nicht übermäßig angenehm, besonders, da ich keine Eckplatz zum Schlafen bekommen hatte.

Sonntag 16. früh 5 Uhr wurden wir auf dem hiesigen Bahnhof von Deputirten der Stadt empfangen und in unsere Quartiere vertheilt. Ich wohne bei einem jungen reichen Kaufmann Stephan (aus Magdeburg gebürtig), welcher sowohl wie seine Frau, durch ihre Liebenswürdigkeit u. Gastfreundschaft mir das Leben möglichst angenehm machen. Ich wohne in einem reizenden Zimmer am Altstädtischen Kirchenplatz.

Vormittag 11 Uhr war die erste allgemeine Sitzung, eröffnet mit der Trauerbotschaft, daß der Präsident der diesjährigen Naturforscherversammlung, der alte hochverdiente Prof. der Zoologie und Anatomie Heinrich Rathke, gestern Morgen plötzlich am Schlage verstorben sei. Es wurde nun zum Praesident der Prof. der Physiologie von Wittich gewählt. Dann folgte feierliche Rede und Constituirung der Sektionen. Den ganzen Nachmittag und Abend großes Festessen.

Montag 17. war ich von 8 – 10 Uhr in der anatomisch physiologischen von 10 – 12½ on der zoologischen Sektion. Beide tagten im anatomisch physiolischen Hörsaal. Zum Praesident wurde einer unserer ersten Zoologen, Prof von Siebold aus München, gewählt. Dieser hielt auch den ersten Vortrag, über einige Lebenserscheinungen der Süßwasserfische. Den zweiten Vortrag, von 11 – 12½ Uhr hielt ich, und es ging ganz gut, viel besser u. flüssiger, als ich gedacht hatte. || Ich sprach ganz frei, aber ohne alle Bangigkeit, zum ersten Male. Du kannst denken, wie froh ich war, daß meine Befürchtungen vergeblich gewesen waren. Meine lieben Radiolarien erregten in ihrer Gestaltenpracht noch mehr Erstaunen u. Bewunderung, als ich erwartet hatte, und besonders Prof. v. Siebold u. Prof. Grube, Zoologe aus Breslau, überhäuften mich mit schmeichelhaften Lobsprüchen. Am meisten Spaß machte es mir, daß Virchow den ganzen 1½ stündigen Vortrag mit anhörte und deßhalb allein aus seiner pathologisch- medicinischen Section fortgeblieben war. Virchow hatte unterwegs in der National Zeitung den Etna Aufsatz gelesen und neckte mich sehr mit dem „poetischen Hauche“, welcher in dem „Gefühle unbefriedigter Sehnsucht“ seinen Ausdruck suche!

Auch sonst habe ich viel Bekannte gefunden und noch mehr neue angenehme Bekanntschaften gemacht. Gestern Nachmittag machten wir eine sehr hübsche Dampfschifffahrt in das Haff hinaus. Gestern Abend war ich mit Dr. Meyer aus Hamburg bei Prof. Hirsch zusammen, der eine sehr a nette kleine Frau hat u. sehr glücklich mit ihr zu leben scheint, was ich gar nicht begreife!! Zumal bei einem Professor! – Der erste, den ich hier auf dem Bahnhof sah u. sprach, b war mein alter Freund Hein aus Danzig, welcher durchaus will, daß ich noch ein paar Tage in Danzig bei ihm bleiben soll. ||

Die Rückkehr wird allerdings ein paar Tage später stattfinden, als ich gedacht hatte. Nach dem Programm findet erst Freitag die Extrafahrt nach Danzig u. Marienburg Statt.

Sonnabend u. Sonntag sind die officiellen Feierlichkeiten u. Lustfahrten in Danzig u. Montag u. Dienstag soll ich noch bei Hein bleiben. Das letztere werde ich indessen wohl nicht thun, sondern Dienstag von Danzig nach Stettin fahren u. Mittwoch (26) mit dem ersten Schiff nach Swinemünde. Schreibe ich nichts Anders, so kommst Du mir also vielleicht Mittwoch Vormittag bis zu dem kleinen wohlbekannten Dünenhügel bei Ahlbeck entgegen. Das wird allerdings spät! Wie schade, daß der September nicht 40, statt 30 Tage hat! Ein so ausgezeichneter Monat müßte schon eine Ausnahme machen. || Wird so unser gemeinsamer Aufenthalt in Heringsdorf leider etwas abgekürzt, so hoffe ich, soll er darum nur noch netter werden. Mein Schatzchen steckt mir gewiß sein bestes Sonntagsgesicht auf u. soll auch keine Gelegenheit haben, den Brummkasten zu gebrauchen. Vielleicht kann auch Mutter noch ein paar Tage länger bleiben. Heute hoffe ich sicher durch Carl einen Brief zu erhalten. Ich bin heut Abend mit Braun bei Caspary.

Ein paar Worte will ich auch heut noch nach Freienwalde schreiben. Grüße Mutter schön, lieber, süßer Schatz, u. laß Dir einen innigen Kuß geben von Deinem treuen Erni, dem zu seiner Zufriedenheit Nichts fehlt, als sein Liebstes und Bestes. Könntest Du doch mit hier sein! Viele Prof. (auch Virchow) haben ihre Frauen mitgebracht.

a gestr.: klei; b gestr.: welch;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
18.09.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 38325
ID
38325