Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bertha Sethe, Jena, 17. Februar 1900

Jena 17.2.1900.

Liebe Tante Bertha!

Für Deinen lieben Brief, der mich gestern zum 66.sten Geburtstage erfreute, nebst den beigefügten idealen u. realen Glückwünschen – (letztere in Form der herrlichen Torte) sage ich Dir meinen herzlichsten Dank! Leider habe ich den verhängnißvollen 16. Februar – der für mich so reich an den süßesten u. an den schmerzlichsten Erinnerungen ist – diesmal als Patient im Bette zubringen müssen, als Opfer einer Influenza-Epidemie die hier grassirt. Vor 3 Tagen befiel mich starkes Fieber, worauf ein Bronchial-Catarrh folgte, wie ich ihn seit vielen Jahren nicht gehabt. Heute geht es schon etwas besser. ||

Der Rückblick auf das nun abgeschlossene 66.ste Lebensjahr, der mich gestern beschäftigte, konnte nur dankbar (im Ganzen) sein. Dieses Jahr hat mir ungeahnte Erfolge und Ehren gebracht, wie kein anderes. Von den „Welträthseln“ sind jetzt (nach kaum 5 Monaten) schon 7000 Exemplare abgesetzt. Strauss lässt jetzt die IV. Auflage – unverändert – erscheinen (8.–10. Tausend). Auch Italiänische, Französische und Englische Übersetzungen sind in Arbeit.

– Auch die „Kunstformen“ (von denen ich Dir nächstens Heft IV. schicke) finden sehr dankbare Aufnahme. Dazu nun der große (– vielbeneidete –) Bressa Preis, die eherne (schön in braunes Erz gravirte) Gedächtniß-Tafel der Römischen Academie dei Lincei u. s. w. ||

Es ist aber bekanntlich „dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen“. Die häusliche Misere, die andauernde Krankheit von Frau und Tochter, war im letzten Jahr schlimmer, als in vielen anderen. Der psychische klägliche Zustand von Emma (– der natürlich auf Agnes täglich zurückwirkt –) legt uns oft die Frage vor, ob es nicht besser wäre, sie in einer Anstalt unterzubringen (– oder bei einem geduldigen kinderlosen Ehepaar, etwa einem Landpastor –). Aber wenn es zum Entschluß kommen soll, schreckt meine arme Frau immer vor diesem vor dieser „Grausamkeit“ zurück. So müssen wir das arme Wesen, dessen Leben weder für sie selbst, noch für uns und Andere irgend Nutzen u. Freude bringt, weiter mitschleppen. ||

Vorige Woche hatte ich einige sehr schöne Tage in Meiningen (vom 8.–10.). Der Herzog Georg hatte mich im Schlosse fürstlich einquartirt (3 große Parterre-Zimmer mit schönen Gemälden, Blumen etc.). Aussicht auf den Park. Bei dem großen Gala-Diner am 9.2. zeichnete er mich ostensibel aus (– zum Entsetzen aller frommen Leute) –. Die Fahrt über den dicht beschneiten Thüringer Wald (4½ Stunden) war bei sonnigem Winter-Wetter sehr schön. Ich hatte mit dem Herzog sehr interessante eingehende Gespräche über die „Welträthsel“ etc. –

Die einliegenden Zeitungsausschnitte erbitte ich zurück. Die Biographie von Bölsche (aus der Neuen Deutschen Rundschau) kannst Du einstweilen behalten; später kriegst Du sie vollständig. Mit besten Grüßen

Dein treuer

Ernst H.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
17.02.1900
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 38246
ID
38246