Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 16. Mai 1856

16 Mai 56.

Lieber Ernst!

Der schöne Frühling ist nun eingetreten und die kalten Tage, an denen ich aus Husten und Schnupfen nicht herauskam, scheinen vorüber zu sein. Der Frühlingsübergang wird doch im Alter sehr fühlbar, er bringt im ganzen Körper eine Art Revolution mit sich, das Blut macht viel zu schaffen, auch fühlt man sich matter und der häufige Wechsel von Wärme und Kälte greift sehr an, man erkältet sich häufig. Ich bin in den letzten Wochen aus den Erkältungen gar nicht herausgekommen, die Ritterschen Kollegien sind seit 8 Tagen durch die Ferien unterbrochen. Inzwischen ist alles frisch grün geworden, was mich auf meinen Morgenspatziergängen im Thiergarten sehr erquikt. Die Nachtigallen schlagen fleißig, die Bäume haben eine schöne Blüte gehabt, sie ist meist vorüber, nun kommt der Hollunder. Auch schreitet in unsrer Gegend der Bau der neuen Häuser sehr vor. Ich habe in den letzten 8 Tagen viel im Ritter über Armenien, Mesopotamien, den Euphrat etc gelesen. In Armenien haben sich frühzeitig Christengemeinen gebildet und im 3ten – 6ten Jahrhundert haben die Armenier viel die christlichen Schulen in Alexandria, Constantinopel, Athen etc besucht, auch viel die Alten studirt und übersetzt und es hat dort eine höhere wißenschaftliche Cultur stattgefunden. Die armenischen Christengemeinen haben sich unabhängig von Rom und Constantinopel erhalten. In spätern Jahrhunderten ist das Land von den Osmanen und Persern sehr geplagt worden, zuletzt hat es sich den Rußen in die Arme geworfen, um jenen Plackereien zu entgehn und in der neuesten Zeit ist ein großer Theil von Armenien Rußisch geworden. In Edzmiadzin in der Nähe des Ararat residirt ihr Patriarch und in den Armenischen Thälern existiren sehr viele Klöster, die aber dennoch das Volk in der Kultur nicht sehr vorwärts gebracht haben. Die vorigen Bedrükungen im eignen Lande durch die Türken und Perser haben große Auswanderungen veranlaßt, so daß man in Kleinasien und a südöstlichen Europa viele Armenier findet. Sogar bis Oesterreichisch-Polen sind sie gekommen, besonders nach Lemberg. Dort haben die Römischen die Armenier zu bekehren versucht. Diese bilden die sogenannten Unirten in Gallizien, die den Pabst als Oberhaupt anerkennen. Auch die Gelehrsamkeit der frühern Jahrhunderte hat in manchen Gegenden fortgedauert, sie haben schon seit langer Zeit Colonien in Venedig, daher die berühmten Drukereien b und Uebersetzungen, die für den Orient arbeiten. Nächst der Gelehrsamkeit haben sich die Ausgewanderten besondersc dem Handel ergeben, man findet sie in Bombay, Kalkutta, Constantinopel, südlichen Rußland, sie sind noch durchtriebener als die Juden, und sehr betrügerisch.

– Die beiden Quellen des Euphrat, der Frat und Murad, die aus den armenischen Gebirgen kommen, vereinigen sich bei Charpet und brechen bei Malathieh durch den Taurus, wo die bekannten Waßerfälle des Euphrat sind, bei Samasota und Rumkula nimmt der Euphrat seine Direktion sehr westlich nach dem Mittelländischen Meere zu, bis er sich bei Nisib südöstlich nach dem Persischen Meerbusen wendet und schiffbar wird. Hiedurch wird diese Gegend ihrer ganzen Weltstellung nach ein Verbindungspunkt zwischen dem Occident und Orient, in der Gegend von Aleppo (Haleb) ist der Uebergangs Punkt vom mittelländischen Meer zum Euphrat, den man nun in neuester Zeit, wenn erst die Slawen jetzt frei geworden und die Eisenbahnen bis Constantinopel gehen, aufs Neue zum Handel zu benutzen suchen wird. Oesterreich rechnet stark darauf.

– Ich habe Momsens Bekanntschaft gemacht, er ist als Profeßor juris in Breslau angestellt, ist aber zugleich großer Kenner der Antiquitäten und Philolog, er hat einige Jahre in Rom zugebracht und seine römische Geschichte in 3 Bänden, die sehr geistreich sein soll, macht großes Aufsehn, ich werde sie nächstens lesen. Breslau hat gegen 800 Studenten, darunter gegen 300 Theologen meist oberschlesische Katholiken und gegen 300 Juristen, meist arme Teufels, es istd wenig wißenschaftlicher Geist unter diesen Studenten. Momsen geht etwas ins Extrem in seiner Geschichte, Caesar ist sein Lieblingsheld und Cicero kommt sehr schlecht bei ihm weg.

– In diesen Tagen ist Quinke in Eisenach, wo sich die Gesellschaft für den Thüringischen Bergbau (Kupfergruben) in Eisenach konstituirt, an der auch ich nach meinen Kräften nicht unwesentlich Theil nehme.

– Wir sind in den letzten 8 Tagen viel in Familiengesellschaft gewesen, einen Abend bei Jonas, wo es mir sehr wohl gefallen hat. Sonst habe ich Besuche bei Weiss, (wo jetzt der Leipziger Profeßor Weisse zum Besuch ist) und bei Passow gemacht, die Mädchen sind auch einmal bei uns gewesen. Hℓ. Weisse ist ein gediegener Gelehrter und auf christlichem Standpunkt zwar rationalistisch, aber den Kern des Christenthums festhaltend. || Am 2ten Feiertage war e ich mit Carl bei Sydow, der beinah 1½ Stunden predigte. Er hätte fast 3 Predigten daraus machen können. Aber es kommen immer sehr ansprechende Parthien darin vor. Ich selbst, wenn ich auch glaubte, daß es nun genug wäre und er nun aufhören könne, wurde doch immer wieder gefeßelt. Er predigte über den Geist, der das Wesen des Christenthums ausmache, hob besonders den Geist der Liebe hervor, erklärte sich gegen das Streben der Confeßionellen, diesen Geist einzubannen, der besonders in unsern Reaktionairs vorwaltet. Ohne Scheu benutzen sie alle Mittel, ihren Glauben anderen gewaltsam aufzudringen, bei Stellenbesetzungen und wo es nur angeht, werden die, die sich zu ihnen halten, hervorgezogen, woraus sich denn ein großer Schweif gemeiner Anhänger gebildet hat, der nur um Geld und Ehre und Einfluß dient. – Manchen gehn allmählich die Augen auf, so soll z.B. Büchsel bei seiner Gemeine sehr im Verfall sein.

– An einer Eisenbahn durch die Nieder- und Oberlausitz über Lukau, Kalau, Cottbus, Spremberg bis Görlitz wird jetzt gearbeitet, sie soll mit der Schlesischen Gebirgsbahn von Görlitz aus über Hirschberg, Waldenburg, durch die Grafschaft Glatz ein ganzes bilden und in Böhmen in die Wiener Bahn einmünden. Sie würde zugleich die kürzeste Bahn von Berlin nach Wien sein.

– Der Friede hat nun eine große Regsamkeit in allerlei industriellenf Unternehmungen zu Stande gebracht, man richtet Banquegesellschaften, Bergwerksgesellschaften etc meist im Wege von Aktienunternehmungen ein und denkt nun auf die Ausflüge für den bestehenden Sommer. Oncle Julius und Frau werden wohl Heinrich in Heidelberg besuchen und dann nach Bonn gehen.Wahrscheinlich ist zum August die Eisenbahn von Münster nach Emden fertig und wir können sie vielleicht schon zu unsrer Reise nach Aurich benutzen und dann mit Julius am Rhein zusammentreffen. Frau Karo benutzt jetzt Dein Quartier und wenn es wärmer wird, wollen wir auf Deinem Balkon öfters Kaffee trinken.

– Abends lesen wir jetzt Deine Reisebriefe. Für heute genug. Die Erfahrungen, die Du als Assistent von Virchow durchzumachen haben wirst, werden Dir von großem Nutzen sein. Halte nur treulich aus und schreibe uns recht ausführlich, wie es Dir geht. Deine Briefe machen uns immer große Freude, Du hast in Würzburg schon manches gelernt, wie sich der Mensch ins Leben finden lernen kann und muß. Dein

alter Dich innigst liebender Alter Hkl

a gestr.: öst; b gestr.: die; c eingef.: besonders; d eingef.: es ist; e gestr.: ist; f eingef.: industriellen

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
16.05.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 36135
ID
36135