Haeckel, Carl

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 18. Oktober 1851

Berlin 18 October 51.

Mein liebster Ernst!

Aus Deinem letzten Briefe habe ich ersehen, daß das Heimweh schon etwas nachgelassen hat und daß Du fleißig bist. Das Heimweh wird allmählich schwinden und Du wirst doch die Anhänglichkeit an das väterliche Haus behalten, so muß es auch sein, da der Mann sich selbständig im Leben zu bewegen bestimmt ist und selbst die Frau ihrem eignen Haushalt folgen soll. Bruder Carl neben meinem Zimmer ist auch sehr fleißig, ihr steigta beide auf diesenb Examenberg, und da keucht man zuweilen unterwegs. Wie schön aber, wenn man die Höhe erstiegen hat! Du blickst dann in das Land der freien Studien, Carl in das etwas dürre Land der Akten, aber auch der Sandboden nährt seinen Mann, wie die Mark zeigt und er wirft sogar ein häusliches Leben ab. – Wir richten uns hier nur allmählich ein, es geht langsam, erst vor wenigen Tagen sind in unsern Zimmern die Bilder aufgehangen, so daß sie sich nun in diesem Kleide zeigen können. Eben diese häuslichen Besorgungen haben verhindert, daß wir noch wenige Antrittsbesuche gemacht haben. Vorgestern Abend waren wir beim Herrn Präsident v. Grollman, wo auch Frau v. Braunschweig war die nach Erfurt zurückgereist ist. c Auch besuchte uns die Giesel aus Hirschberg mit Laura und ihrem Bräutigam, die aus der Priegnitz kamen und denen die Mutter entgegen gekommen ward. Gestern war Herr Frobenius und Frau bei uns, die Dir diesen Brief mitbringen. Sonst werden wir, wie es das Ansehn hat, unser hiesiges ländliches Leben (denn ein städtisches kann ich es kaum nennen, noch heißt es immer, wenn wir ausgehen, „wir gehen in die Stadt“) ziemlich ruhig zubringen, was auch in unsern Wünschen liegt. Ich gehe fleißig in und um den Thiergarten spatzieren, der für mich ein großer Gewinn ist. Abends halb 9 Uhr geht es in der Regel (wenn wir nicht ausgegangen sind) zum Papa wo wir bis halb 10 Uhr zu bleiben pflegen. Carl geht oder steht vielmehr auf seinem eignen Wege, er ist seit ein paar Tagen ganz in das Land des römischen und Landrechts gezogen. Ich selbst kann mit meinen Studien noch nicht recht in Zug kommen, gegen Mittag (von 12–2 Uhr) mache ich öfters Antrittsbesuche, Nachmittag von halb 5 bis halb 7 oder 7 Uhr gehe ich spatzieren, ist es finster und trübes Wetter, so gehe ich auf der Charlottenburger Chaussee, wo ich eine Stunde lang hinwärtse unter gut erleuchtetenf Laternen gehe und eben so zurück. So gut würde es mir wo anders kaum werden. In wissenschaftlichen Verkehr bin ich noch nicht getreten, das wird sich erst allmählich finden. Es ist doch ganz in der Ordnung, || daß ich mich für meine letzten Lebensjahre zurückgezogen habe. Der Körper leistet nicht mehr das, was er in frühern Jahren geleistet und auch meinen alten Freunden geht es so, auch der Geist hat nicht mehr die frühere Agilität, das Gedächtniß, die Darstellungsgabe nehmen ab, das Sprachorgan wird steifer und ungelenkiger. Aber etwas hat g doch das Alter voraus, eine ruhigere, klarere Uebersicht der Dinge. Ich habe h zwar noch meine hitzigen, lebendigen Stunden, besonders in der Politik, aber im Ganzen und wenn das Aufbrausen vorüber ist, tritt doch die ruhigere Ansicht hervor. Man findet sich zuförderst darein, nicht alles erleben zu können, man sieht aber, was für den Augenblick zu thun ist, und gewöhnt sich daran, das Leben eines Volks nach Generationen zu meßen. Ist man jung, so will man alle diese Generationen selbst durchlaufen. Das ist gegen die göttliche Ordnung. – So finde ich es in ruhigen Stunden ganz in der Ordnung, daß jetzt das Verkehrte und Falsche in Religion und Politik erst durchgemacht werden muß, bis das Richtige an die Reihe kommt. Es wird noch viel schlimmer werden, als es jetzt schon ist. Das Verkehrte muß sich noch viel mehr in seiner ganzen Blöße offenbaren, das deutsche Philisterthum, was ein sehr dickes Fell hat, muß noch vielmehr geängstigt und gepeinigt werden, bis das Gesunde und Frische wieder hervortreten und gedeihen kann. Aber es giebt freilich Stunden, wo man beim Zusehn ganz außer sich wird. Also Geduld! Ich für mein Theil suche mir nur die Aussicht auf eine beßere Zeit offen zu erhalten, um nicht das Intereße an der Gegenwart zu verlieren. –

Vorgestern war ich beim Profeßor Weiss, dem es doch noch gelungen ist, die Gletscher und Alpenstöcke um den Mont Rosa zu schauen. Er ward sehr zufrieden mit seiner Reise, obwohl er viel schlechtes Wetter gehabt hat. Er meint, die Entstehung und die Verwandlung der Gletscher sei ihm dort ganz klar geworden und man habe hierüber viel zu viel theoretisirt. Dabei habe er einen großen Genuß mitten in einer großen Welt von hohen Alpenstöcken a 10–12000 Fuß gehabt, von denen viele noch keinen besondern Namen haben. Die Bildung dieser Welt sei außerordentlich intereßant und für den Naturforscher in geognostischer, mineralogischer und botanischer Hinsicht von höchster Bedeutung. Das werde einmal ein rechter Genuß für Dich sein. Dazu wirst Du aber freilich noch einer großen universellen Vorbildung | bedürfen. – Philipp aus Bonn ist in diesen Tagen hieri angekommen, um hier sein Staatsexamen als Arzt zu machen. In dem ersten halben Jahr muß der angehende Arzt auf der Universität Botanik, Zoologie, Mineralogie und Chemie hören, im 2ten Anatomie etc. Du kommst also grade im ersten Jahre in Deine Lieblingsstudien, mag Dich auch vorläufig die Botanik vorzugsweise intereßiren, so wirst Du hoffentlich nicht dabei stehen bleiben, sondern universeller werden. Für jetzt aber die Vorstudien: Alte Sprachen, Geschichte, Dichter etc. Die neueren Sprachen, ohne welche Du durchaus nicht fertig werden kannst (französisch, englisch, italienisch) kommen später dran und sie werden Dir sehr leicht werden, wenn Du einen recht tüchtigen Grund im lateinischen gelegt haben wirst. Darum recht fleißig in dieser Sprache, worin ich aus andern Gründen Herrn Wieck beistimme. – Was die Zeitungen betrifft, so wende Dich nur an Caro. Er wird sie Dir wohl geben, wenn sie erst circulirt haben (z. B. die Constitutionelle). Ich lese sie nur bei Papa, dem ich sie immer bald zurückgebe.

Beigehenden Schuldschein, den ich der dortigen Armenkaße cedirt habe, gieb an Herrn Rechtsanwalt Grumbach, mit dem ich hierüber gesprochen habe.

Nun lebe wohl mein lieber Ernst, sei fleißig und heiter und theile das, was aus diesem Briefe Intereße für meine Freunde, denen ich mich herzlich empfehle, haben kann, denselben mit und schreibe uns bald wieder. So wirst [Du] hoffentlich alle 8 Tage einen Brief von mir erhalten.

Dein Dich liebender Vater

Haeckel

Heute ist ein merkwürdiger Tag: der 18te October!, der vor 38 Jahren den Grund zur Befreiung Deutschlands legte. Hätten wir nicht den 7jährigen Krieg und die Befreiungskriege gehabt, so würde ich an Preußen und Deutschland verzweifeln. Grade diese Kriege geben mir aber eine sichere Hoffnung für die Zukunft. Wie gesagt, man muß nach Generationen meßen. Soeben kommt Mimi und schickt Dir einen herzlichen Gruß zu!

Mein Körper macht mir viel [zu] schaffen, viel Andrang des Bluts nach dem Kopf und Unterleibsbeschwerden, darum ist mir eine ganz regelmäßige Lebensart und viel Bewegung durchaus nöthig.

a gestr.: leidet; eingef.: steigt; b eingef.: diesen; c gestr.: Gis; d eingef.: die aus der Priegnitz … entgegen gekommen war; e eingef.: hinwärts; f eingef.: gut erleuchteten; g gestr.: man; h gestr.: schon; i eingef.: hier

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.10.1851
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35976
ID
35976