Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Hirschberg, 10./11. September 1862

Hirschberg 10 Sptmb. 62

Lieben Kinder!

Gestern erhielten wir Euere Briefe aus Salzburg, woraus wir zu unserer Freude entnehmen, wie gut es Euch gegangen und daß Ihr zu Eurer Reise durch das Salzkammergut so schönes Wetter gehabt und in Salzburg ein gutes Unterkommen gefunden habt. Ihr werdet nun Eure Reise durch das Zillerthal angetreten haben und diese Zeilen sollen Euch in Meran finden. Wir haben hier mehrere gesprochen, die ebenfalls erst vor kurzem im Salzburgischen gewesen sind, unter anderem gestern ein junges Ehepaar, den Kreisgerichtsrath Hesse nebst Frau, die erst seit 10–12 Tagen zurükgekehrt sind, und die uns erzählten, wie das Salzburgische ein wahrer Wallfahrtsort für junge Eheleute geworden sei und man sie duzendweis dort finde und sie sogleich durch die Galanterie der jungen Ehemänner an den jungen Frauen erkenne. Besagtes Ehepaar besitzt eine sehr hübsche Besitzung unter dem Kinast, eine sehr schön gelegene Bleiche, auf welcher wir sie gestern Nachmittags mit Schuberts und Lamperts besucht haben (die Lampert ist mit Herrn Hesse nahe verwandt) und wo wir ein paar schöne Stunden zugebracht haben. So schön wie in Salzburg ist es im hiesigen Gebirge freilich nicht, denn die Alpen und die Gletscher fehlen und das hiesige Gebirge (die Schneekoppe ist nahe an 5000 Fuß hoch) ist im Vergleich zu ihnen nur ein Vorgebirge. Indeß schön genug und reich an reitzenden Aussichten, um sich des Lebens zu erfreuen, so wie wir denn in den 8 Tagen seit wir hier sind, herrliche Genüße gehabt haben. Die Freuden, welche ich hier habe, wurzeln insbesondere noch auf meinem Heimathsgefühl, welches außerordentlich lebendig ist und in welchem die Genüße meiner frühesten Jugend wieder aufleben. Dazu kommt, daß mein hiesiger Heimathsort großen Verschönerungen und das Hirschberger Thal großen Veränderungen zu seinem Besten entgegen geht, indem die Schlesische Gebirgsbahn hier durchgeführt werden soll und in Hirschberg ein Hauptbahnhof zu stehen kommen soll. So bin ich denn gleich bei meiner Ankunft hier (am 2. September) aufs anmuthigste überrascht worden, indem die Gräben, welche um die Stadt geführt sind, schon halb ausgefüllt sind und in schöne Promenaden um die Stadt verwandelt werden sollen. Auf der einen Seite nach der Stadt zu waren diese Gräben durch Mauern und kleine Thürme begrenzt und hinter diesen meist kleine Gärten, die den so genannten Zwinger bildeten. Diese Mauerna sind und werden abgetragen und in die Stadtgräben geworfen, um diese auszufüllen. Auf der andern Seite der Stadtgräben sind bereits schöne Gärten und es fehlen zu diesen nun noch an mehrern Stellen hübsche Häuser, um auch von dieser Seite die Promenade zu verschönern, es wird aber nicht ausbleiben, daß diese Häuser gebaut werden, so wie denn Schuberts Haus, in welchem wir wohnen, schon ein solches mit schönem Garten und sehr hübsch und bequem eingerichtet ist. Im Bereich von 1 Stunde ist dieb Stadt mit sehr hübschen einzelnen Bergen umkränzt, die meist mit Fichten bewachsen sind. Nach Westen zu sind sie sehr zusammenhängend und beginnen mit dem Durchbruch des Bobers durch eine enge, mit dem schönsten Fichtenwalde bedekte Schlucht, auf beiden Seiten steile, mit Wald bedekte Anhöhen, so daß diese Parthie zu den wichtigen Naturmerkwürdigkeiten von großer Schönheit zu rechnen ist. Südlich längst den Bergen zieht sich das höchst fruchtbare Thal des Zackens, welcher mehrere Stunden lang von Schreiberhau und Wernersdorf angerechnet durch lauter volkreiche Dörfer fließt, und im Süden des Hirschberger Thals steigt dann das hiesige Hochgebirge empor, welches, man mag sagen was man will, schon etwas Wildes und Grandioses hat, indem auf dem Kamm, der 8 Monate des Jahres mit Schnee bedekt ist, die Vegetation aufhört und nur noch Knieholz gedeiht. Zu diesen Naturgenüßen, welche Mutter und mich erfreuen, kommt nun noch ein Intereße andrer Art. Dieses Thal hat sich über 1 Jahrhundert hindurch bis vor 40 Jahren eines großen Wohlstandes durch die Leinwandfabrikation erfreut. Dieser Wohlstand wurdec durch die französische Okkupation in den Jahren 1806/13 und durch die inzwischen vorgegangenen Veränderungen im Welthandel vernichtet und die schöne Gegend sah einer völligen Verarmung entgegen. Die letzten 40 Jahre sind eine große Prüfungsschule für das hiesige Volk gewesen. Die Tausende von Leinwandwebern sind erst zu andern Beschäftigungen z. B. zur Baumwollenweberei, Holz- und Schnitzarbeiten und zur mühevollsten Bestellung ihrer kleinen Akergrundstüke übergegangen. Es haben sich in Folge der neuen || Erfindungen schon viele neue Fabriken z. B. ein Duzend Papierfabriken etablirt und es hat nur noch die Steinkohle gefehlt, um viele andre Fabrikanlagen zu begründen, da die Gebirgsbäche eine große Waßerkraft enthalten, um Fabriken in Bewegung zu setzen. Diese Kohle wird nun in Folge der neuen Eisenbahn, von dem 6 Meilen entfernten Waldenburg her in großen Quantitäten wohlfeil geliefert werden und das Hirschberger Thal sieht daher einem neuen Aufschwung entgegen. Dazu kommt, daß die Gegend durch ihre reitzenden Abwechslungen ganz zur Anlage von Landhäusern gelegen ist, die in den Sommermonaten von Fremden bewohnt werden und in welchen sich viele Fremde niederlaßen werden, da auch im Winter die Gegend große Reitze hat und so habe ich denn dieses Mahl mein liebes Thal voll von Hoffnungen erfüllt wieder gesehn und auch in Gedanken mit seinem Wiederaufblühen beschäftigt. Schuberts leben zusammen glüklich, obwohl Adolph immer noch viel Hypochondrisches beibehalten hat, sie haben einen hübschen netten kleinen Jungen, der sie erfreut und ihnen Hoffnung in die Zukunft eröffnet. –

Mutter ist körperlich viel wohler als voriges Jahr, wir machen, da das Wetter meist schön und auch warm ist, öfters Parthien und wir denken noch 14 Tage hier zu bleiben, weshalb wir von Euch noch mehrmals Nachricht erwarten. Diese Zeilen sollst Du, liebe Anna, zu Deinem Geburtstag erhalten. Gott erhalte Dich und Ernst gesund, genießt rechtd die Freuden, die Euch Gott beschert hat, ohne Störung. Die schweren Tage werden in Zukunft nicht ausbleiben, denn wir sollen nun Einmal daran erinnert werden, daß dieses Leben bei allem Glük doch unvollkommen bleibt und daß wir noch zu ganz anderen Existenzen als dieser irdischen bestimmt sind. Allein auch diese irdische Existenz hat ihre große Kraft, sonst hätte Gott diese Erde und die sie bewohnenden Menschen mit ihren Kräften nicht geschaffen und ich gehöre keineswegs zu denen, welche dieses Leben wie einen bloßen Sündenpfuhl ansehen. Allerdings hat Gott auch eine starke sündhafte Seite in uns gelegt, die wir hier auf Erden auf alle Weise bekämpfen sollen und welcher Kampf hier auf Erden nicht aufhört. Diese irdische sündhafte Seite, in ihrer weitesten Benennung als Egoismus sich darstellend, führt allen Kampf, Hader und Zwietracht in der Welt herbei und macht vielfältig diesen schönen Aufenthalt, e den uns Gott auf Erden bestimmt hat, zur Hölle, die irdischen Leidenschaften überwältigen die göttliche Anlage in uns und laßen das göttliche Ebenbild, was Gott in uns gelegt hat, nicht zur Entwikelung gelangen, und wenn wir uns den irdischen Genüßen zu sehr hingeben, so werden wir durch Leiden und Schmerzen aufs empfindlichste an unsre höhere Bestimmung erinnert, und so sieh denn auch Du liebe Anna der Zukunft mit Ernst entgegen, ohne das, was Gott Dir jetzt Gutes und Erfreuliches gewährt, mit Mistrauen von Dir zu weisen. Du gehst nun in das ernste Haus der Ehe und des Familienlebens ein und es werden Dir nun andre Aufgaben und andre Pflichten entgegen treten.

Den 11. September. Gestern gegen Abend haben wir noch einen Spatziergang auf den Kreuzberg gemacht, welcher ¾ Stunden östlich von der Stadt gelegen und von dem Gutsbesitzer Kramffe mit geschmakvollen Anlagen versehen ist. Das Wetter war sehr schön, die Abendbeleuchtung der Berge ist ungemein reitzend in violett und wir konnten uns alle an der schönen Gegend gar nicht satt sehen. So hat es Gott eingerichtet, daß die schöne Natur unser Innerstes ergreift und f anspricht und wo und wir auch auf diese Weise zu Gott gewendet werden. So lag gestern Abend ein Frieden auf dem Gebirge, als wollte es sagen: Wendet Euch nur zu mir, wenn es Euch in der Welt nicht mehr gefällt; es liegt etwas Ewiges in mir, das Euch stets erquiken wird und ich laße ruhig alle Generationen unter meinen Füßen vorüber gehen. A Dieu, liebe Kinder.

Euer Alter

Hkl.

a eingef.: Mauern; b eingef.: die; c eingef.: wurde; d eingef.: recht; e gestr.: Gott; f gestr.: und

 

Letter metadata

Datierung
11.09.1862
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35672
ID
35672