Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg an der Warthe, 19. 23. Januar 1864

Landsberg 19 Januar 1864

Lieber Bruder!

Wie oft schon habe ich in Gedanken an Dich geschrieben und Dir auf Deinen Neujahrsgruß antworten wollen. Aber bald fehlte nachher die Zeit oder die rechte Stimmung. Heute ist’s mir ein Bedürfniß, mich gegen Dich auszusprechen. Ich schreibe unter dem Eindruck der jammervollen Details über die Erklärungen in der letzten Landestagssitzung vom 14t dieses Monats. Es ist mir dabei recht Häckelsch zu Muthe, und ich möchte mich, so wie Vater und Du, so recht ausärgern über die tolle Wirthschaft, die man bei uns nach Innen und Außen in der Politik treibt. Man sollte es kaum glauben, daß eine Regierung so aus allen Kräften den eigenen Staat ins Verderben hineinreiten könne. Und doch, ist es wohl bloß deshalb möglich, weil diese oder jene hochgestellte Persönlichkeit es so will? – Nein, es ist das letzte Zusammentreffen und Hochaufflackern der feudalen Flamme, die immer noch in bestimmten einflußreichen Kreisen unseres Volkes ihre Nahrung findet, und es || muß uns zur Lehre dienen, daß wir bei der gewiß nicht ausbleibenden Reaktion gegen diese Wirthschaft uns Einrichtungen anschaffen und bisherige fortschaffen müssen, damit in Zukunft derlei unnatürlichea Zustände unmöglich werden. Es muß mit dem feudalen Wesen bei nächster Gelegenheit gründlich aufgeräumt werden und dazu müssen organische Einrichtungen treten, die es der Krone unmöglich machen, in jetziger Weise so offen gegen den Willen der überwiegenden Mehrzahl des Volkes in seinen intelligentesten und gesündesten Kreisen zu handeln. Thut man mitunter einen Blick in das jenseitige politische Lager, wozu ich hier dann und wann Gelegenheit habe, so überzeugt man sich, daß es bei vielen nicht sowohl böser Wille, als Bornirtheit, b Unwissenheit und Verblendung in den höchsten Potenzen ist. Unsre soldatischen Junker meinen in allem Ernste, jetzt sei die rechte Zeit zum Annektiren in Deutschland! Aber sie werden sich bitter täuschen. Zum Bürgerkrieg || und zum Abfall des preußischen Volks von seiner Dynastie können sie es treiben; aber dauernde Eroberungen werden sie auf diese Weise gewiß nie in Deutschland machen. Wir werden noch sehr schwere Zeiten erleben und Du kannst Dich glücklich schätzen, wenn Duc in diesen nicht dem preußischen Staatsverbande angehörst. Unwillkührlich wünscht man in gleicher Lage zu sein; doch ist es wieder Pflicht jedes wahren Patrioten, gerade in solchen Zeiten zäh auszuharren und an seinem Platze für Nahrung und Kräftigung volksthümlichen Wesens zu thun, was in seinen Kräften steht. Das ist freilich für den Beamten keine leichte Sache, namentlich für den dessen Existenz durch seine amtliche Stellung bedingt ist. Da muß man sich in den meisten Fällen darauf beschränken, nichts wider seine Ueberzeugung zu thun und das Unrecht nicht alsd Recht anzuerkennen. –

Den 23 Januar.

Eben frage ich Mimmi, ob sie nicht ein Kraut, gegen die Schreibfaulheit gewachsen, weiß; sie meint, ich solle nur rasch anfangen, dann würde ich sie schon überwinden. Das thue ich denn auch, nachdem ich sie aber gründlich dafür abgeherzt habe, daß sie in solchen Zeiten einem in Po-||litik verbiesterten Manne ein so guter Trost u. Beruhigungs-Zufluchtsstätte (ich rede jetzt in österreichischem Style) ist. Unser Leben ist jetzt etwas unruhiger als vor Weihnachten. Es giebt 1 oder 2mal die Woche Gesellschaften, zu denen wir eingeladen werden. In der Regel sind dieselben Personen, Bekannte aus unserem juristischen Kreise, zusammen. Dienstag vor 8 Tagen wurde bei Böttger’s nach dem Essen etwas getanzt, bis 1½ Uhr. – Karl, der am Sonntag vorher gekommen war, blieb auf unsern Wunsch dazu hier und amüsirte sich gut. Mimmi sah ganz nett aus, mit einem neuen Weihnachts-Aufsatz von den Tanten Bertha und Gertrud, die sich überhaupt diesmal sehr angestrengt haben, und zwar gemeinschaftlich. Am letzten Mittwoch war grand diner bei Rechts Anwalt Glogau (nicht Abendgesellschaft, weil ihr jenes bequemer sei!) Aus der Kollegenschaft war zur Verherrlichung der Dirigens da, den man sonst nicht in unsren Kreisen genießt. Es bewährte sich wieder, daß man mit einem Menschen von dieser Taktlosigkeit in Gesellschaft es gar nicht aushalten kann. Er fängt stets gegenüber von Andersdenkenden von Politik zu reden an; alles hört schweigend zu u. sucht ihn danne zu meiden, so daß er oft isolirt für sich stand. Aber er ist gut dazu, nur den Hass gegen die Junkerwirthschaft noch zu verstärken, u. thut dies in seiner Unverschämtheit nach Kräften.

– Außer der Geselligkeit habe ich 2mal Abends Turnen, einmal Bürgerklub ((zwangloses Zusammenkommen von Personen aller Stände bei einem Glase || Bier, jedoch nur solche die in liberaler Weise für öffentliches Leben in Stadt und Staat sich interessiren) 1mal Nachmittags Kegeln; u. bin dann froh, wenn ich die übrig bleibenden Abende mit Mimmi zusammensitzen u. ihr vorlesen kann. Vor Weihnachten u. nach der Rückkehr von Berlin hatte ich wenig freie Zeit. Jetzt scheint es mit den Geschäften zeitweise etwas nachzulassen, so daß ich eher zum Lesen komme. Ich habe Mimmi in diesen Tagen aus v. Sybel’s kleinen historischen Schriften (die die Tanten mir zu Weihnachten geschenkt haben) die Vorlesungen über Prinz Eugen vorgelesen. Das war eine prächtige deutsche Natur, trotz seiner italienischen Abstammung. Ging’s nach seinem Sinn, so verlor Deutschland damals nicht den Elsaß, u. gewann die Donau-Provinzen bis zur Mündung des Flußes. Er hatte die Aufgabe Österr.’s in dieser Beziehung richtig erkannt: Hort der Civilisation im Osten, an den Ufern der Donau zu werden. Aber sein Kaiser (Leopold I. sowohl als Karl VI.) waren wie verrannt, Italien u. Spanien zu bekommen, f meist in den Händen der Pfaffen u. spanischer Räthe u. durchkreuzten so stets Eugen’s Pläne oder schwächten sie doch ab. Es ist überhaupt merkwürdig, daß Österreich noch heute, wie seit Jahrhunderten immer noch von einer seiner na-||lürlichen Aufgabe nicht entsprechende Politik, wie versessen ist. In Preußen war’s in der Regel grad anders. Nur seit Anfang dieses Jahrhunderts haben wir auch überwiegend in politischen Schwuppern gemacht, und unser Bismarck ist eben im Begriffe, einen recht eklatanten auszubringen. Es ist wirklich toll, daß wir wieder die beste Gelegenheit für deutsches und eigenes Interesse etwas Gescheites zu thun, so muthwillig dahin gehen lassen. – Doch zurück nach Landsberg. Die Kälte war in den letzten 3 Wochen recht anständig, 8 Tage lang -7–10°; wir hatten schöne Eisbahn auf dem Warthekanal hinter der Brücken Vorstadt, theilweis auch auf der Warthe. Die beiden Aeltesten haben zu laufen angefangen; Karl ließ sich ganz leidlich an. Jetzt schwimmt wieder alles in Matsch. – Beide kommen übrigens in ihren Klassen gut fort u. Karl ist schon wieder Erster in Griechisch u. Latein. Mit Anna’s Lernen sind die Lehrer auch zufrieden. Es ist wie ein Wunder, daß sie bei ihrem bedächtigen Anziehen nicht oft zu spät kommt. Heinz u. Mieze sind die vorzüglichsten Freunde Eures großen Bilderbuches, für das wir Euch besonderen Dank sagen. Es hat mich sehr ergötzt, so viel alte Bekannte darin zu finden, darunter auch einige heimliche Flüchtlinge, wie die beiden Stiche von Schlachten unter Friedrich dem Großen, und die Schlacht bei Aspern, (wozu wir die eingerahmten Pendants in der Schlafstube aufgehängt haben). Das Nette dabei ist, daß für jedes Alter etwas darin ist, u. wie mir scheint, sehr gute naturwissenschaftliche Abbildungen, die Du Gott weiß aus welchen Ecken zusammengesucht u. aufgekauft zu haben scheinst. Ich kann mir denken, daß das Zusammenkleben Euch viel Spaß gemacht hat. – Für den Euler-Müller danke ich Dir übrigens bestens (obwohl Du mir eigentlich das neueste Scheffel’sche: „Frau Avertiure“ versprochen hattest, was Du wohl längst vergessen hast) u. hoffe mit Hülfe dieses u. des Voigt mich u. Mimmi mit der Zeit noch recht schön naturwissenschaftlich herauszustaffiren. Aber auch das Radiolariengeschenk weiß ich wohl zu schätzen und Du hast mir damit wirklich eine rechte Freude gemacht. Es soll mir sehr lieb sein, wenn sich einer der Bengels dadurch bewogen findet, in die naturwissenschaftliche Karriere sich hineinzubegeben. – –

Ich lese mir eben nochmals Deinen letzten Brief zum Neujahr durch || u. muß Dir doch auf Dein absprechendes Urtheil über unser Abgeordnetenhaus dienen. Was würdest Du denn an dessen Stelle nicht blos sagen, sondern auch thun? – Meinst Du, daß sich mit der Masse unserer Bevölkerung, das liberale Bürgerthum in den fortschrittlichsten Städten mit einbegriffen, eine Revolution machen läßt? – Hie u. dag einige Putsche würde es geben, aber nichts weiter. Zu dergl. Aktionen unsere preußischen Massen aufzurütteln bedarf es noch ganz andren Pisackens der Einzelnen, vor allem ihres Geldbeutels. Wir sind durch den langen Frieden zu sehr verweichlicht, u. außerdem durch das Beispiel von anno 48. kopfscheu geworden. Darüber herrscht nur Eine Stimme. Das Verlassen des gesetzlichen Weges würde uns nur zu bald in eine um so krassere Reaktion zurückwerfen. Was Twesten in der Debatte über die „Ergänzung“ (?) des Art. 99 sagte, kennzeichnet am richtigsten die Stimmung.

Nun ade, altes Haus, ich habe Dir nun wohl genug vorgeschwatzt, u. doch vergessen zu sagen, daß ich am 3t Januar auf der Rückreise Esmarch in Frankfurt gesprochen habe. Er hatte damals noch frischen Muth, − wie es auch jetzt noch die meisten Schleswig Holsteiner zu haben scheinen. – Hast Du seine kurze u. prägnante Schrift über die Erbfolgefrage gelesen? Morgen will ich mich zur Sonntags-Feier in Schleswig-Holsteiniana vertiefen. Herzlichen Gruß an Deine Anna.

Dein Karl.

Denke Dir: Boerner siedelt zu Ostern nach Berlin über, um dort (wie es scheint, besonders in Augenheilkunde) weiter zu praktiziren. Ich werde wohl Dr. Gerike nehmen, den Du auch bei uns sahst. Was meinst Du zu dem? −h

Zu meinem Schreck entdecke ich heute, daß uns der alte Wieck mit den Zeitungsblättern, die ich ihm über die Darwinsche Sache gesandt, den Abdruck Deines Vortrags nicht zurückgesandt hat. Hast Du noch ein solches Zeitungsexemplar, so bitte ich, es mir zu reserviren.i

a gestr.: Geschicht; eingef.: unnatürliche; b gestr.: und; c eingef.: wenn Du; d eingef.: als; e eingef.: dann; f gestr.: ganz; g eingef.: Hie u. da; h Text weiter auf dem rechten Rand von S. 7: Du auch … zu dem? –; i Nachschrift auf dem linken Rand von S. 1: Zu meinem Schreck … zu reserviren.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.01.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34964
ID
34964