Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Jena, 9. Juli 1912

Jena 9.7.1912.

Liebster Freund!

Das Schutzhäuschen, welches Du in Berlin für den gütigst von Dir gestifteten Rollstuhl besorgt hattest, ist vor einigen Tagen wohlbehalten hier eingetroffen und im Garten hinter der Villa Medusa zweckmäßig aufgestellt. Es ist sehr praktisch und erfüllt seinen Zweck vortrefflich. Tausend Dank für diesen neuen Beweis Deiner rührenden Fürsorge! Als ich dem [!] Berliner Fabrik (Windler) die gute Ankunft von Fahrstuhl und Remise meldete, teilte ich ihm zugleich mit, daß ich in dem selben Geschäft vor 60 Jahren (!) als angehender Mediziner – 1852 – mein erstes, noch jetzt vorhandenes, anatomisches Besteck kaufte; das hat sie sehr erfreut. ||

Ich fahre nun täglich in der schönen Morgenstunde von 9–10 in das liebe „Paradies“ und erfreue mich immer aufs Neue an dem erfrischenden Anblick der Saale und ihrer baumgeschmückten Ufer, dahinter die parkartigen „Wöllnitzer Wiesen“, und darüber die malerischen Kernberge. Oft begegne ich auf dieser Promenade Fräulein Maria Holgers, die noch mehrere Wochen hier in Sommerfrische bleibt. Ihre geistreiche Unterhaltung, vielfach anregend besonders in Bezug auf Künste und Literatur, ist mir sehr wertvoll. Sie läßt Dich schön grüssen und auch ihrerseits herzlich danken, daß Du so bemüht bist, meinen alten invaliden Organismus noch über Wasser zu halten. ||

Nach der Morgenfahrt in dem sehr bequemen und angenehmen Rollstuhl, bei der ich regelmäßig an Deine mir so teure Freundschaft denke, fungiert mein sorgsamer Schieber (Herr Karl Weber) noch eine Viertelstunde als Masseur und sucht die verrosteten alten Gelenke (– sowohl Knie- als Hüft-Gelenk sind noch sehr steif und schmerzhaft –) wieder etwas beweglicher zu machen, auch die atrophischen Muskeln wieder beweglicher zu a reizen. Den lästigen Stützapparat (à la Hessing) mit den steifen Schienen, habe ich nach 6wöchentlichem Gebrauch wieder aufgegeben, da die Erschlaffung der außer Gebrauch gesetzten Muskeln (besonders die Atrophie des großen Streckmuskels des Oberschenkels, Extensor quadriceps) dadurch nur vermehrt wurden. ||

Die schwankende Gesundheit von Schwester Röschen ist seit einigen Wochen wieder besser, und erlaubt ihr, täglich einige Stunden in unserem kleinen Garten zu sitzen, der in diesem herrlichen Frühjahr, bei musterhaftem fruchtbarem Wetter, uns durch ungewöhnlich üppige Vegetation erfreut. Meyers, vom „Landgrafenberg“, besuchen uns oft.

Hoffentlich genießt Ihr auf Eurem Schottischen Grafenschloss Dalnair ebenfalls recht die immer neu erquickenden Reize der Natur!

Mit herzlichen Grüssen von Haus zu Haus

treulichst Dein alter

Ernst Haeckel

a gestr.: machen

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
09.07.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 32944
ID
32944