Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Josef Brettauer, [Berlin, Mai 1858]

Lieber Brettauer,

Endlich wird es denn doch einmal hohe Zeit, meine Briefschuld abzutragen. Am guten Vorsatz fehlt es bei mir nicht, wohl aber an Gelegenheit, diesen zu realisieren, wie Du mir zugeben wirst, wenn ich Dir in Kurzem einen Abriß meines letzten Lebensvierteljahres gebe. Als Dein lieber Brief mich zu Weihnachten erfreute, hatte ich die erste, böse Hälfte meines Staatsexamens absolviert. Mit der zweiten, womöglich noch schlimmeren wurde ich erst am 17. März fertig und zwar glücklich genug, mit Ausnahme einer interessanten Varioloideneruptiona, die mich mitten in der innern klinischen Station 14 Tage in’s Bett warf (gerade zur Einzugsfeier A. d. K. H. H. am 8. Februar) ohne jedoch meine cutis wesentlich durch Narben zu characterisieren.

Die 4te (Geburtshilfliche) Station, von der ich so gut wie garnichts wußte, und vor der ich deshalb die meiste, und sehr gerechtfertigte Angst hatte, bestand ich merkwürdigerweise am besten, während ich in der medizinischen || wo ich relativ am meisten wußte, mit genauer Noth durchkam. Mit welcher Masse von Quälereien und Pedanterien ich in diesen horriblen 5 Examensmonaten geplagt war, könnt ihr Euch schwerlich denken. Den höheren Blödsinn unserer kgl. Medicin. Ober-Examinations-Commission überstieg in der That alle Grenzen des Erlaubten und selbst meine kühnsten Erwartungen. Ich bin dadurch förmlich mit einem Theil des Unsinns der Wienerb medizinischen Schule (negativ) ausgesöhnt worden. Beispielsweise erwähne ich nur, daß ich bei Herrn Geh… (nominae non sunt odiosa) lernte, daß die 12 (!!!) Qualitäten des Pulses bei Pleuritis sich gerade umgekehrt wie bei Pneumonie verhalten (!) und daß Tuberculose darum durch Emphysem geheilt wird, weil beim letzteren die Lunge so gewaltsam hypertrophiert, || daß etwac vorhandene Cavernen oder Tuberceln atrophieren und veröden (!?!) Hübsche Stückchen das, nicht wahr!!? Nie habe ich preußische Zopfwirtschaft so gründlich hassen lernen, als bei diesen 5 Leidesstationen, die mir 5 der schönsten Lebensmonate so erbarmungswürdig versauerten. Am gründlichsten ist dadurch mein Abscheu gegen die aurea praxis selbst geworden, die jetzt freilich nur in weitester Entfernung mich noch als Gespenstschatten zuweilen schreckt. Um so gründlicher war aber wohl der Jubel, mit dem ich am 18ten März 1858 (also gerade 10 Jahr nach dem holden deutschen Freiheitstage!) Morgens als praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer erwacht, natürlich mit der festen Absicht, von diesem edlen Recht, die Leute kunstreich aus der Welt zu befördern, erst möglichst spät, und || nur unter den dringendsten Umständen, Gebrauch machen zu wollen.

Das erste, was ich nachdem die Tage des ersten Jubelrausches über die neu errungene Freiheit vorüber waren that, war, daß ich meine sämmtlichen Pflanzenschätze durchmusterte und nachdem diese in ca 4 Wochen bestimmt, eingeordnet, systematisiert und in ca 30 hübschen Bänden zusammengehäuft waren, ebenso an meine zoologische Sammlung ging mit der ich noch gegenwärtig beschäftigt bin.

Den kommenden Sommer hatte ich ausschließlich bei Johannes Müller privatissime arbeiten wollen, um mich für einen längeren Aufenthalt an einer südlichen Seeküste passend vorzubereiten und meine zootomischen Kenntnisse wenigstens in ihren wesentlichen Lücken auszufüllen. Ich hatte mich sehr auf diesen Sommer || gefreut, um so mehr, als Johannes Mueller selbst mit großer Liebe auf meine Pläne einzugehen schien. Wie traurig alle diese schönen Hoffnungen durch Johannes Müllers Tod plötzlich vereitelt wurden, wißt ihr selbst wohl. Sein Verlust ist für uns speziell so unersetzlich, daß man über die Nachfolger (die Professur wird wenigstens in 2 gespalten, Du Bois bekommt wahrscheinlich die Physiologie) noch kaum Hypothesen aufstellt, wenigstens über die Anatomie (Koelliker? Reichert?).

Mir bleibt nichts übrig, als nun selbstständig fortzuarbeiten. Vorläufig bin ich mit Muscheln beschäftigt. Außerdem präparire ich möglichst mannichfach auf die bevorstehende Reise. Nächsten Winter werde ich wahrscheinlich in Italien zubringen. In einem ausführlichen Briefe, den ich nächstens an Call zu senden gedenke, werde ich dieses und Anderes auch ausführlicher mittheilen. Heute ist Raum und Zeit für den einzu-||schachtelnden Brief zu kurz zugemessen. Von Leuten, die ihr auchd kennt befindet sich Krabbe und Chamisso, beide in Paris zu sehr feinen Leuten geworden, noch hier. Boettcher und Focke sind weg. Sonst fehlt es mir wohl nicht an nettem Umgang namentlich zoologischem. Trotzdem denke ich jetzt oft mit großer Sehnsucht an den herrlichen Sommer in Wien zurück, der mit seinen physiologisch-wissenschaftlichen Genüssen und seinen herrlichen, botanischen Bummeltouren mir unvergeßlich seine wird. Der Sommeraufenthalt in dieser Sandbüchse ist dagegen denn doch gar zu gräulich. Wohl dem der nicht in Berlin im Sommer ist. Wenn Du Brücke und Ludwig siehst, bitte ich mich bestens (als theoretischer Arzt?) zu empfehlen. Ebenso grüße Steinach || Call, Becker, Richthofen herzlichst.

Nochmals schönen Dank für Deinen Brief. Bald ein Mehr. Dein Freund

Haeckel

Wilhelmstraße 73.

a irrtüml.: Variolaiden; b korr. aus: Wieder; c korr. aus: etwas; d korr. aus: nicht; e korr. aus: sind

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
1858.05
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
31883