Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 23. September 1914

München Schackstr. 2 d. 23.IX.14

Hochverehrter lieber Freund u. Lehrer!

Meine Frau hat Ihnen schon mitgetheilt, warum ich Ihren Brief nicht habe beantworten können. Sonnabend vor 8 Tagen kam ich von Reise nach Strassburg und den Vogesen zurück. Dieselbe hatte es wahrscheinlich gemacht, daß mein Sohn, der Reserveleutnant bei der Artillerie war und am 28 August bei Coinches in der Nähe von St Dié durch einen Granatsplitter in’s linke Gesäß verwundet wurde, nach dem Lazareth Schloß Sanley gebracht worden sei. Dieses war || am 29. August früh von den Franzosen innerhalb weniger Minuten zu einem brennenden Trümmerhaufen zusammengeschossen worden. Wie ich in Lacroix bei Laveline durch den Stabsarzt des Lazareths erfahren hatte, war Otto bei den Geretteten nicht a gewesen. Da die Liste des Larareths verbrannt war, konnte Niemand mir mittheilen, ob er aufgenommen und demnach zu Grunde gegangen sei. Als ich nach München zurückkehrte, schien diese Vermuthung sich zu bestätigen, da ein mit Otto befreundeter, krank inzwischen nachb München zurückgekehrter Regimentscamerad, der zugleich Adjutant war, die Mittheilung brachte, daß Otto in der That nach Sanley gebracht worden und wahrscheinlich bei der Katastrophe umgekommen sei. Erkundigungen bei vielen Ver-||wundeten in Münchener Lazarethen, welche theils aus dem Lazareth sich gerettet hatten, theils beim Kampf um Sanley verwundet worden waren, machten es höchst unwahrscheinlich, daß mein Sohn sich habe herausarbeiten können und schließlich von den Franzosen aufgefundenb worden sei. Denn Sanley war noch 5–6 Stunden nach der Katastrophe von den Deutschen behauptet worden.

In dieser Zeit völliger Verzweiflung erreichte uns am Mittwoch ein Brief unseres Ottos, dem einige Tage später eine Correspondenzkarte folgte, daß er verwundet im Lazareth von Chambéry liege, in guter Behandlung sei, daß die Heilung seiner Wunden gute Fortschritte mache, || daß er aber keine Hemden und Kleider habe, ferner bat er um Geldzusendung. Die nächsten Tage waren ganz von Briefeschreiberein in Angelegenheiten meines Sohnes in Anspruch genommen. Weiter habe ich ihm Interesse unserer deutschen Sache Briefe an Grassi geschrieben, der gut deutsch gesinnt ist u. alsd Senatore del regno und Secretär der Academie größeren Einfluß besitzt. Es scheint jetzt allerdings sichere als ob Italienf keinen Verrath üben wird. Besonders beruhigend ist es daß die sozialistische Partei letzten Montag auf ihrem Parteitag in Rom sich mit aller Energie für Neutralität ausgesprochen hat.

Und nun komme ich auf die || von Ihnen angeregte Erklärung, die ja inzwischen erschienen ist, zu.

Heigel und meine Frau haben Ihnen schon mitgetheilt, daß die zu einer Berathung zusammengetretenen Münchener Collegen, zu denen auch ich gehörte, mit Ihnen in der Verurtheilung der englischen Politik vollkommen übereinstimmen, daß sie aber sich zu einem so aussergewöhnlichen Schritt der englischen Gelehrtenwelt gegenüber nicht haben entschließen können. Beide haben Sie auch über die Gründe dieses Verhaltens benachrichtigt. Ich komme daher auf diesen Punkt nicht noch einmal zurück.

Ich habe aber in Erwägung gezogen, daß || unsere ablehnende Haltung in weiteren Kreisen, namentlich von Seiten der Engländer eine falsche Deutung erfahren können, als ob wir Ihr Urtheil über das Verhalten der englischen Regierung nicht völlig theilten. Ich halte es für nöthig einer derartigen Mißdeutung entgegenzutreten und habe dem entsprechend eine Erklärung in den letzten Tagen abgefasst. Meine Besprechungen mit Heigel und Goebel haben bisher zu keinem Resultat geführt; ich hoffe aber doch noch durchzudringen und meine akademisch kühlen Collegen zu einem etwas temperamentvolleren Han-||deln zu bestimmen. Ich werde Ihnen darüber berichten, auch morgen mit Eucken, der ja hier einen Vortrag hält, die Angelegenheit g besprechen.

Soeben trifft die Nachricht ein, daß 3 englische Panzerschiffe von 12,000 Tonnen und starker Bemannung und zwar am Eingang des Kanals durch deutsche Unterseeboote in die Luft gesprengt wurden. Ist das eine frohe Botschaft! Wenn man die Verluste der Marine abwägt, so kommt man zum Resultat, daß die Engländer bisher die 4fachen Verluste erlitten haben. Hoffen wir, daß es uns Deutschen gelingen || wird, die englische Macht in ihren Fundamenten zu erschüttern.

Herzlichst grüßt Sie und wünscht Ihnen und Ihrer lieben Familie alles Gute

Ihr in alter Treue und

Dankbarkeit ergebener

R. Hertwig

a gestr.: dabei; b korr. aus: R; c korr. aus: aufgefangen; d eingef.: als; e eingef.: sicher; f korr. aus: Fra; g gestr.: beschaftig

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.09.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30538
ID
30538