Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 20. Mai 1887

München d. 20. Mai 1887.

Hochverehrter und lieber Freund!

Durch die Übersendung Ihrer prächtigen Monographie haben Sie mir eine so große Freude gemacht daß icha Ihnen gleich meinen Dank ausdrücken wollte und mich daher zum telegraphiren entschloß. Ich habe mich gestern daran gemacht und zunächst den Atlas durchblättert und hie und da auch den Text eingesehen. Insgesamt nehmen sich die Phaeodarien aus. Hier ist doch eine ganz neue Welt von Rhizopodenformen || erschlossen; namentlich die Phaeogromien zeigen welch eine Umbildungsfähigkeit der Formen in einer so niedrig organisirten Gruppe von Thieren bestehen kann. Bei aller Formenmannigfaltigkeit ist bei den Phaeodarien überraschend eine grosse Gleichförmigkeit in der Ornamentik, als ob sich bei ihnen ein bestimmer Baustyl entwickelt hätte. Mir kommt diese Erscheinung noch viel merkwürdiger vor, als die Gleichförmigkeit im Bau der Central-Kapsel, welche ja von gemeinsamen Vorfahren vererbt ist.

Mit dem herzlichsten Dank verbinde ich || nun aber auch meinen besten Glückwunsch, daß Sie das gewaltige Werk jetzt hinter sich haben. Ich habe immer Ihre Antriebsenergie bewundert und Sie darum beneidet, am meisten aber bei der Bearbeitung der Radiolarien. Ich glaube, daß es mir ganz unmöglich sein würde, mit solcher Ausdauer an einer so umfangreichen Arbeit zu bleiben. Mir fehlt der hohe Grad an Arbeitsfreudigkeit, den Sie trotz der 50 Jahre sich bewahrt haben. Darum glaube ich es auch nicht, wovon Sie immer sprechen, daß Sie b in zoologischen Dingen dem Wahlspruch „otium cum dignitate“ von jetzt ab hin-||geben werden.

In München gehen wir c unruhigen Zeiten entgegen. Nägeli, welcher jetzt 70 Jahre alt geworden ist, hat den Antrag auf Pensionirung gestellt. Die Berathungen über seinen Nachfolger werden wohl nicht ohne manche Redeschlacht verlaufen. Radlkofer wird natürlich Alles aufbieten um das fette Erbe anzutreten. Er hat auch seinen großen Anhang und bietet dazu den ganz außerordentlich wichtigen Vortheil, daß viel Geld gespart wird, wenn died Nägeli’sche Stelle nicht neu besetzt wird. || Baeyer, Zittel und ich legen dagegen großen Werth auf einen tüchtigen botanischen Collegen. Da Nägeli vermöge mancher unbehaglicher Charaktereigenthümlichkeiten und seiner erschütterten Gesundheit nicht die Stellung einnahm, welche seiner ganz hervorragenden Befähigung gebührte, fehlte uns die ganz Zeit über ein geeigneter Botaniker; Alles lag in den Händen Radlkofer’s, über dessen Lehrbefähigung die Studenten noch viel ungünstiger urtheilen als seine Collegen über seine wissenschaftliche Tüchtigkeit. Wenn Nägeli’s || Stelle neu besetzt wird, – was wahrscheinlich in diesem Sommer nicht mehr geschehen wird – haben wir Gelegenheit dem an unserer Universität so fühlbar gewordenen Mangel abzuhelfen. Ich bin auf den Ausgang der Angelegenheit sehr gespannt. Wie gewöhnlich so verquickt sich auch hier die Berufungsfrage mit manchen Nebenfragen, Verlegung des botanischen Gartens, Bau eines physikalischen Instituts etc.

Die Besetzung der Berliner zweiten anatomischen Professur scheint ja auch eine recht schwere Geburt zu werden. || Hoffentlich kommt schließlich das Kind noch lebenskräftig zur Welt. Fast macht es den Eindruck als ob die medicinische Facultät eine Rabenwehemutter ist, der eine fausse couche gar nicht so unangenehm wäre. Für Oscar würde ich mich freuen, wenn er eine Stelle bekäme, welche ihm mehr freie Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit gestatten würde als seine jetzige. Ebenso halte ich es im Interesse der Morphologie, wenn er nach Berlin käme.

Heute Abend berathen wir in der || Facultät über unsere gemeinsame Physicumpetition. Ich werde vorschlagen, daß als durchgefallen derjenige gilt welcher auch nur in einem Fach V hat, daß er das Examen dann aber nur in dem betreffenden Fach nachzumachen hat.

Viele Grüße an Sie und Ihre verehrte Frau und nochmals herzlichen Dank von

Ihrem treu ergebenen

Richard Hertwig

a korr. aus: Ich; b gestr.: sich; c gestr.: jetzt, d korr. aus: seine

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.05.1887
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30459
ID
30459