Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Messina, 7. Januar 1877

Messina den 7t Januar 1877.

Hochverehrter Herr Professor!

Für Ihre freundlichen Zeilen meinen besten Dank! Sie kamen uns doppelt angenehm, als wir wenig Briefe von Deutschland empfangen, wenig zum Zeitunglesen kommen und so kaum etwas erfahren von dem, was zu Hause vorgeht.

Daß Ihre Reise trotz des ungünstigen Wetters Ihnen wegen der gastfreundlichen Aufnahme auf englischem Boden a die erwünschte Erholung gebracht, hat uns sehr gefreut, desgleichen die große Frequenz unseres lieben Jenas. Hoffen wir, daß der Bestand auch nächsten Sommer so bleiben wird, damit auch etwas für uns arme Privatdocenten abfällt.

Ich will mich als nunmehr 4semestriger Privatdocent auch einmal mit einem Privatcolleg herauswagen. Am geeignetsten scheinen mir dazu die Würmer zu sein, da dieselben wegen || der weiteren Verbreitung des Parasitismus auch für die Mediciner Interesse haben. Um für den Fall daß ich mit meiner Anzeige Fiasco mache, noch einen Rückhalt zu haben, will ich außerdem noch über Protisten publice lesen. Ich gedachte somit zweistündig privatim über Würmer und 1stündig publice über Protisten zu lesen. Sollte es Ihnen recht sein, so bitte ich Sie freundlichst mich bald zu benachrichtigen, damit ich rechtzeitig meinen Zettel an den Dekan einsenden kann. Wenn ich mich recht erinnere, ist der Termin bis zu dem die Einsendung erfolgen muß, auf den 1ten Februar festgesetzt. Außerdem bin ich in Verlegenheit, wer in diesem Semester Dekan ist. So vielb ich mich erinnere, ist es Snell für dieses Semester; ich habe mich wenigstens bei ihm abgemeldet. Oscar will zweistündig publice vergleichende Anatomie der Sinnesorgane lesen.

Bisher habe ich mich vorwiegend noch mit Radiolarien befaßt. Ich verschaffe mir dieselben zum großen Theil durch Schöpfen und habe es im Herausfangen der im Wasser suspendirten Geschöpfe || so weit gebracht, daß ich einkernige, junge Acanthometren mit der Glasröhre herausfische. Ich bekommen so außerordentlich lebenskräftige Exemplare und bin an denselben über die Natur der Gallertcilien ins Klare gekommen. Dieselben haben mit den Pseudopodien nichts zu thun, sondern sind eigenthümliche contractile Fäden, die sich zwischen Gallerte und Stacheln ausspannen. Es sind histologische Differenzirungen analog den Muskelstreifen und Stielmuskeln der Infusorien. Die Pseudopodien treten an ganz anderer Stelle hervor, siec zeichnen sich allerdings durch eine große Regelmäßigkeit der Anordnung aus namentlich bei Xiphacantha, insofern sie jedesmal in der Mitte zwischen zwei benachbarten Stacheln hervortreten.

Eine ganz eigenthümliche Beschaffenheit zeigt die Centralkapsel einer ganzen Reihe von Radiolarien. Bei einer Reihe ist die Communication zwischen extra und intracapsulärer Sarkode auf 3 Stellen beschränkt, die alle einen besonderen Bau erkennen lassen, 1 Hauptöffnung und zwei Nebenöffnungen. Hierher gehören Aulacantha, Aulosphaera, Caeloden-||drum und eind neues ebenfalls mit hohlen Radial und Tangentialstacheln versehenes, die Mitte zwischen den 3 genannten Genera einhaltendes Genus; bei dieser Gattungen zeigt auch das Binnenbläschen, welches einzig und allein den Zellkerne des Organismus bildet, einen sehr übereinstimmenden Bau.

Bei einer anderen Anzahl (früher Prismatien und eine den Cyrtiden nahestehende Form) ist die Centralkapsel ganz monaxon die Austrittsstelle der Pseudopodien auf eine Stelle beschränkt, die sich dann ebenfalls durch eigenthümliche Differenzirung zu erkennen giebt.

Entwicklungsgeschichtliches habe ich nichts beobachtet, dagegen eine Anzahl hübscher neuer Formen gefunden. Besonderes Vergnügen macht mir ein der Noctiluca nahestehendes, generisch aber von derselben zu trennendes Geschöpfchen. Darüber werde ich Ihnen ein ander Mal schreiben.

Zum Neujahr noch nachträglich von Oscar und mir herzlichste Glückwünsche für Sie und Ihre liebe Familie, bei der ich hoffe und wünsche, daß Gesundheit mit dem Neujahr eingezogen ist. Wir haben Weihnachtsabend bei Klostermanns, Neujahr bei wundervollem Wetter im herrlichen Taormina verlebt.

Ihr treu ergebener Richard Hertwig

a gestr.: Ihnen; b eingef.: viel; c eingef.: sie; d korr. aus: eine; e korr. aus: Kern

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.01.1877
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30427
ID
30427