Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 21. Mai 1871

Bonn den 21ten Mai 1871.

Hochverehrter Herr Professor.

Für Ihre freundlichen Zeilen sage ich Ihnen herzlichsten Dank und übersende Ihnen gleichzeitig Oscars Nachtrag zur Entwicklungsgeschichte des Mantels nebst den geliehenen Arbeiten Kowalevskys. Er ist später fertig geworden als es uns beiden lieb war, allein die Kliniken forderten zu viel Zeit, als daß es möglich gewesen wäre, continuirlich an der Zusammenstellung der Beobachtungen zu arbeiten. Ich meinerseits habe auf einen nachträglichen Zusatz verzichtet. Was ich am Meere gesehen habe, bot zu wenig Neues, was zu meiner Arbeit in direkter Beziehung gestanden hätte und dieses Wenige waren hauptsächlich Beobachtungen, welche das in Jena schon gesehene auf andere Spezies übertrugen. Andererseits sind die embryologischen Untersuchungen bei der || kurzen Zeit unseres Aufenthalts zu wenig zum Abschluß gekommen, als daß sie sich zur Veröffentlichung eigneten. Ungenaues vorzubringen scheue ich mich, wo der Gegenstand schon so ausführlich und gründlich von Kowalevsky behandelt worden ist. Letzteres hilt mich auch ab von einer Erwiderung gegen den Dönitzschen Artikel, der wegen Mangel jeglicher Angabe von positiven auf Abbildungen sich stützenden Beobachtungen auch wahrlich keine eingehendere Besprechung verdient, als sie Oskar gegeben hat.

Sonntag vor 8 Tagen waren wir bei Prof. Schultze, welcher bis jetzt in Wiesbaden sich aufgehalten hatte. Er war sehr freundlich und erkundigte sich (angelegen) nach unserem Aufenthalt auf Lesina und dem Stande Ihrer Untersuchungen über die Spongien, die er bisher noch immer von den Coelenteraten getrennt und unter die Protisten gestellt hat. Von ihm er-||fuhren wir, daß Kowalevsky durch Untersuchungen über die Entwicklung der Seesterne neue Beweise für Ihre Auffassung der Individualitätsstufe der Echinodermen beigebracht habe. Durch die Nachuntersuchung der Aszidienentwicklung habe ich alle Achtung vor der Beobachtungsgabe Kowalevskys bekommen und bin desßhalb doppelt gespannt, was er gefunden hat. Es wäre prächtig, wenn die empirische Beobachtung eine Auffassungsweise rechtfertigte, welche so viel Licht über die Beweglichkeit der thierischen Form und Organismen verbreitet.

Prof. Pflüger ist jetzt in seinen Vorträgen über allgemeine Physiologie auch auf den Darwinismus gekommen. Nachdem was Wegscheider und andere seiner Zuhörer mir versicherten, will er auf den Lamarkismus zurückgehn und eine Deszendenztheorie ohne Kampf ums Dasein sich construiren, indem er alle || Veränderungen aus einem der Materie innewohnenden Triebe zur Vervollkommnung ableitet und an Stelle einer äußerlich bestimmenden Nothwendigkeit einer inneren im Wesen der Dinge selbst berufende annimmt. Leider collidirt das Colleg mit der chirurgischen Klinik. Doch werden wir in den nächsten Tagen, wo er an die genauere Präzision seines Standpunkts kommen wird, einmal die Klinik opfern, um zu hören worauf er hinaus will.

Daß Ihre Frau Gemahlin noch immer nicht ganz munter ist, thut uns herzlich leid. Hoffentlich wird der warme Frühling, der jetzt endlich seinen Einzug halten zu wollen scheint, auch hier seinen segensreichen Einfluß ausüben.

Mit der Bitte a Oscar und mich Ihrer werthen Familie bestens zu empfehlen

grüßt Sie herzlich

Ihr treu ergebener Schüler

Richard Hertwig.

Prof. Lavalette ist verreist für dieses Semester.

a gestr.: von

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
21.05.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30416
ID
30416