Hertwig, Oscar

Oscar Hertwig an Ernst Haeckel, Bonn, 18. Juni 1871

Bonn den 18ten Juni 1871.

Hochgeehrter Herr Professor.

Der Zusatz zur Arbeit über den Mantel der Ascidien war schon unterwegs, als wir Ihren verehrten Brief erhielten, und bin ich auch recht froh, daß ich die Sache gleich zusammengefaßt habe, um die übrige Zeit bei der Kürze des Semesters zum Lernen benutzen zu können. Auch bin ich jetzt in der Lage, Ihnen nähere Auskunft geben zu können, in wie weit uns die hiesigen Lehrkräfte und Anstalten gefallen. Die chirurgische Klinik ist gut und reichhaltig, und gibt sich Busch in seinem Vortrage und im Operationscurs viele Mühe. Veit ist in seinen Vorlesungen äußerst tüchtig. Dagegen ist das Krankenmaterial in der inneren und gynäkologischen Klinik äußerst spärlich. || Die medicinische Klinik hat überhaupt nur 50 Betten und die sind nicht einmal alle belegt. In der Polyklinik hat Jeder von uns nur zwei Kranke zur Behandlung zugetheilt bekommen, so daß wir es über vier Patienten im Semester nicht bringen werden. Der pathologisch histologische Curs, den wir bei Rindfleisch belegt haben, gefällt uns sehr. Die Augenklinik bei Sämisch wird als die beste von Allen gerühmt, doch hören wir dieselbe noch nicht. Ein besonderer Vortheil ist, daß man hier viele Gegenstände in einem Semester belegen kann.

Vergangene Woche waren wir mit Wegscheider und einigen andern bei Max Schultze zum Abendessen eingeladen. In den großen Ferien wird er in die Schweiz zu längerem || Aufenthalte mit seiner Frau reisen. Ein neues Anatomiegebäude für ihn ist in seiner Entstehung begriffen; bis zu seiner Vollendung wird es aber noch ein Jahr dauern.

In den Pfingstferien wurden wir von zwei Onkeln, einem aus London und einem aus Friedberg aufgesucht und haben wir mit denselben eine sehr vergnügte Tour in das Aarthal und an den Laacher See unternommen, halb bei Regen, halb bei Sonnenschein. In der Zeit ist auch, wie ich nachträglich erfahren habe, zweimal ein Herr bei uns gewesen, der uns Grüße von Ihnen überbringen wollte. Wie er aber heißt, wissen wir bis zur Stunde nicht, und bedauern wir es sehr, daß er uns beide Male verfehlt hat.

Von Frau Prof. Bleek, die Sie vielmals grüßen läßt, haben wir gehört, || daß Sie zu den Einzugsfeierlichkeiten nach Berlin gereist sind und werden Sie daselbst nach Allem, was man in den Zeitungen liest, einige denkwürdige Tage verlebt haben. Hier wurde zu derselben Zeit das Jubiläum des Papstes gefeiert und war Bonn festlich geschmückt. Zu Ehren des Unfehlbaren fand ein großer Fackelzug statt. Eine Adresse von zahlreichen Studenten, darunter nicht wenigen Medicinern unterzeichnet ist von zwei Auserwählten dem heiligen Vater nach Rom überbracht worden. Heute war große Procession von 6000 Menschen. Da lernt man die Macht der Gewohnheit und des angeerbten Vorutheils schätzen.

Mit besten Grüßen an Ihre Frau Gemahlin, Frau Schwiegermutter und Fräulein Schwägerin, an Herrn Prof. Gegenbaur

grüßt Sie herzlichst

Ihr treu ergebener

Oscar Hertwig.

Richard läßt sich Ihnen bestens empfehlen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.06.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30361
ID
30361