Tille, Alexander

Alexander Tille an Ernst Haeckel, Glasgow, 6. August 1895

11 Strathmore Gardens,

Hillhead,

Glasgow,

6.8.95.

Hochverehrter Herr Professor!

Heute las ich in der Allgemeinen Zeitung zu meinem größten Bedauern, daß Ihnen die Ferien durch einen bösen Beinbruch vergällt worden sind, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir thut, daß Sie nun für Wochen ans Zimmer gefesselt sind und obendrein noch Schmerzen zu leiden haben. Leider kann ich diesen Sommer nicht nach Deutschland kommen, um an dortigen Bibliotheken meine Arbeiten zu fördern, da die Bewerbung um Manchester, wo man einen Schulmeister gesucht hata, und andre Dinge zu viel Geld gekostet haben. Sonst käme ich nach Jena, um Ihnen Gesellschaft zu leisten und von Ihnen noch ein bißchen || monistische Weltanschauung zu lernen.

Ich habe Ihnen noch für dreierlei zu danken, für Ihren liebenswürdigen Brief, die freundliche Erwähnung meines Buches in der „Zukunft“ und delle Grazies Robespierre, den mir Breitkopf und Härtel gestern „auf Anregung des Herrn Prof. Häckel“ zuschickten. Nächsten Monat hoffe ich die Muße zu finden, ihn zu lesen.

Herr Harden sandte mir Ihren Huxley-Aufsatz schon in der Korrektur, damit ich ihm die englische Fassung gäbe. Er ist bei der Fortnightly Review und wird wahrscheinlich in der Septembernummer erscheinen.

Wie mir der Verleger schreibt, geht Von Darwin bis Nietzsche ausgezeichnet. Neulich erhielt ich einen Antrag von einer Londoner Firma betreffs des Verlages einer englischen Übersetzung, es ist jedoch bis jetzt noch zu Nichts Bestimmten gekommen. Immer-||hin ists ein gutes Zeichen. Hier in England wird die Idee der sozialen Auslese wahrscheinlich auf harten Widerstand stoßen. Aber Nietzsche beginnt auch schon leise Boden zu fassen.

Ich rüste mich aber, für das soziologische Gebiet die gleiche Arbeit zu tun wie für das ethische, nämlich nachzuweisen, in welcher Weise der Darwinismus umbildend auf die wissenschaftlichen Gesellschaftstheorien eingewirkt hat. Soziologie und Volkstandswirtschaft oder so ähnlich solls heißen. Die Literatur habe ich nahezu zusammen. Das ist hier, wo man keine große Bibliothek zur Verfügung hat, allemal das Schwierigste.

Die deutsche „reine Philosophie“ wird bald genug abgewirtschaftet haben, ebenso wie in England die Hegelei. Nietzsche ist ja wie ein feuriges Ungetüm hineingefahren, und hat im Fluge die Jugend gewonnen. Da muß die Philosophie unwiderruflich mit.

In der Zukunft werden Sie nächstens || einen Aufsatz „Deutsche Literaturgeschichte“ von mir lesen, in dem ich meine literaturhistorischen Kollegen mit meiner „Weltanschauungsgeschichte“ tüchtig zuleibe gehe. Ich hoffe damit wenigstens zu erreichen, daß unsere Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte sie künftig als eigene Rubrik führen und über die Fortschritte der Wissenschaft in ihr ebenso berichten wie über Metrik oder Stoffgeschichte. Das wäre immerhin etwas, solange das Gebiet noch keine eigene Zeitschrift hat.

Mit den allerherzlichsten Wünschen für baldigste Besserung des Beinschadens (unsere althochdeutschen Ahnen hatten da einen wundervollen Spruch, der leider seit die Mediziner gekommen sind, nicht mehr hilft: bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sȏse gelîmida sîn.)

Mit aufrichtigster Verehrung

Ihr ergebenster

Alexander Tille

a eingef.: wo man einen Schulmeister gesucht hat

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.08.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18275
ID
18275